| # taz.de -- Journalistin über Venezuela in der Krise: „Ich lebte permanent i… | |
| > Marjuli Matheus Hidalgo ist Journalistin aus Venezuela. Inzwischen | |
| > arbeitet sie von Chile aus. Ein Gespräch über ihre Arbeit in dem | |
| > Krisenland. | |
| Bild: „Ich schlage mich nicht auf die Seite einer Machtgruppe, sondern zeige … | |
| taz am wochenende: Frau Matheus, seit einigen Monaten leben Sie in | |
| Santiago de Chile. Warum haben Sie Venezuela verlassen? | |
| Marjuli Matheus Hidalgo: Ich wollte Venezuela nicht verlassen, denn | |
| politisch und journalistisch gesehen ist es ja ein spannender Zeitpunkt | |
| gesellschaftlicher Veränderung. Durch die Arbeit im Ausland konnte ich mir | |
| länger als andere das Leben in [1][Venezuela] leisten, aber es kam ein | |
| Punkt, an dem mein Erspartes aufgebraucht war. Bis zum letzten Moment | |
| dachte ich, ich könnte Widerstand leisten und bleiben, aber es ging nicht | |
| mehr. Auch beruflich blieben mir keine Perspektiven. | |
| Sie sind seit vielen Jahren journalistisch tätig. Wann begannen Sie | |
| Veränderungen der Presse- und Meinungsfreiheit wahrzunehmen? | |
| Ich bemerkte in den 2000ern, wie Redaktionen verschiedener Medien ihre | |
| Seitenanzahl reduzierten, [2][weil der Staat eine Richtlinie für die Presse | |
| herausgab]. Wer sich nicht an diese Regeln hielt und kritisch berichtete, | |
| war Repressalien ausgesetzt. So nahm auch die Zahl von Journalist*innen ab. | |
| Über zehn Jahre wurden die Medien durch Sanktionen und Gesetze immer weiter | |
| eingeschränkt. Über bestimmte Themen durfte nicht mehr gesprochen werden | |
| und es gab auch sprachliche Einschränkungen. Heute etwa müssen alle Medien | |
| Nicolás Maduro den rechtmäßigen Präsidenten nennen. Wer Juan Guaidó als | |
| Präsident Venezuelas bezeichnet, verliert den Job. | |
| In den Medien erscheinen regelmäßig Nachrichten von Journalist*innen in | |
| Venezuela, die verhaftet werden. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? | |
| 2001 ging ich für eine Reportage ins Zentrum von Caracas, um über eine | |
| Aktivität von Chávez zu berichten. Die Polizei warnte mich, dass ich meinen | |
| Presseausweis verstecken sollte, weil Verbündete von Chávez | |
| Journalist*innen angriffen. Chávez war dafür bekannt, gezielt einzelne | |
| Journalist*innen zu attackieren. Einzelpersonen haben Familie, einen Ruf | |
| und sind verwundbar, das nutzte er aus. Als Journalistin lebte ich über ein | |
| Jahrzehnt lang permanent mit der Angst vor Zensur oder vor Angriffen. Bis | |
| zum letzten Tag in Venezuela lebte ich mit Angst. Noch am Flughafen | |
| befürchtete ich, sie würden mich nicht gehen lassen. Vorher war es mir | |
| schon mal passiert, dass ich für arbeitsbedingte oder private Reisen das | |
| Land nicht verlassen durfte – weil ich Journalistin bin. | |
| Wie gingen Sie mit Zensur um? | |
| Bei den Medien, wo ich arbeitete, versuchten wir, Probleme zu vermeiden. | |
| Das frustrierte mich sehr. Als 2014 Protestteilnehmer*innen [3][bei | |
| Demonstrationen gegen Maduro] getötet wurden, stellten wir das nicht auf | |
| die Titelseite. Solche sensiblen Themen konnten wir nicht ansprechen. Eine | |
| Zeit lang gab ich dem Medium, für das ich arbeitete, die Schuld, warf ihm | |
| vor, dass es Komplize der Diktatur sei, aber mit der Zeit verstand ich, | |
| dass es die einzige Möglichkeit war, zu überleben. | |
| Wie kamen Sie in Venezuela an Informationen? | |
| Während der gesamten Zeit war ich eingeschränkt bei Recherchen. In | |
| Venezuela erhalten Journalist*innen keine öffentlichen Informationen von | |
| der Regierung, von Banken oder Organisationen. Ich habe immer versucht, | |
| offizielle Dokumente zu erhalten, aber der Staat erschwerte das Informieren | |
| und Berichten. Ich interviewte Juan Guaidó, zwei Tage bevor er sich zum | |
| Interimspräsidenten erklärte. Mehrere Male fragte ich um ein Interview mit | |
| Maduro an, erhielt aber nie eine Antwort. Nur staatsnahe und internationale | |
| Journalist*innen erhalten die Möglichkeit zu einem Interview mit ihm. So | |
| auch der [4][mexikanische Journalist Jorge Ramos], der kritische Fragen | |
| stellte, woraufhin ihm das Material abgenommen und er mehrere Stunden | |
| festgehalten wurde. Danach hatte ich Angst, mit Maduro zu reden, aber ich | |
| hätte es trotzdem getan. | |
| Welche Rolle spielen digitale Medien in Venezuela? | |
| Bis 2014 war das Arbeitsfeld von Journalist*innen ausschließlich auf die | |
| traditionellen Medien beschränkt. Cardena Capriles, eine Medienfirma, bei | |
| der ich zu dieser Zeit arbeitete, wurde von einem staatsnahen Investor | |
| aufgekauft. Das Gleiche passierte mit fast allen einflussreichen, | |
| kritischen Medien. Papier wurde knapp, und die wenigen Zeitungen, die es | |
| sich leisten konnten zu drucken, waren zensiert. Das war der Zeitpunkt, an | |
| dem wir Journalist*innen anfingen, auf digitale Medien auszuweichen, wo wir | |
| kritisch berichten konnten, ohne bedroht zu werden. Nach zwei Jahren | |
| bemerkte Maduro, dass sich die Bevölkerung zunehmend über das Internet | |
| informierte, und ergriff neue Maßnahmen der Zensur. In diesem Zeitraum fing | |
| er auch an, ausländische Fernsehsender zu verbieten, unter ihnen die | |
| Deutsche Welle. | |
| Gab es einen Schlüsselmoment in Ihrer Laufbahn als Journalistin? | |
| Im Jahr 2017 protestierten Student*innen vier Monate gegen das Regime | |
| Maduros. In diesem Zeitraum wurden über 150 Menschen, fast alle unter 30 | |
| Jahre alt, getötet. In dem Gebäude, wo ich lebte, wohnten viele der | |
| Protestteilnehmer*innen. | |
| Am 13. Juni 2017 wurde das Gebäude von Streitkräften Maduros eingenommen. | |
| Zu dem Zeitpunkt arbeitete ich beim Verlag Bloque de Armas und konnte vom | |
| Fenster aus sehen, wie die Polizei die Wohnungen stürmte. Die Polizei nahm | |
| ohne Beweise 12- bis 19-Jährige fest. Meine damals 15-jährige Tochter war | |
| allein in der Wohnung und rief mich weinend an. Ich fuhr hin und startete | |
| eine Liveübertragung. | |
| Die Polizei bemerkte das und bedrohte mich. Sie wollten mich ins Gefängnis | |
| bringen, weil ich über die Situation berichtete. Ich fand Zuflucht in einer | |
| katholischen Schule in der Nähe. In dem Moment wusste ich nichts von meiner | |
| minderjährigen Tochter, die allein war. Ich tat das, was ich in der | |
| Situation tun musste, meiner Pflicht als Journalistin nachzukommen und zu | |
| berichten. Dieser Moment war sehr traumatisch und mischte mein Leben als | |
| Bürgerin mit der Verpflichtung meines Berufes. Wenn ich nachts die Augen | |
| schloss, konnte ich lang noch die Schreie und Detonationen hören. | |
| Ist es möglich, über solche Fälle objektiv zu berichten? | |
| In der Universität wurde immer versucht, Objektivität und Unparteilichkeit | |
| des Journalismus zu lehren, aber wenn man diese Erfahrungen in der ersten | |
| Reihe miterlebt, ist es nicht mehr möglich, Objektivität zu wahren. Das, | |
| was man dann suchen muss, ist die Wahrheit. Als Journalistin versuche ich | |
| nicht, objektiv oder unparteiisch zu sein, sondern ich versuche das zu | |
| reflektieren, was wahrhaftig passiert. Dazu gehört es, alle Seiten einer | |
| Geschichte zu zeigen. | |
| Halten Sie es für möglich, als Venezolanerin über Venezuela zu berichten, | |
| ohne sich dem Maduro- oder Guaidó-Lager zuzurechnen? Kann man sich dieser | |
| Spaltung entziehen? | |
| Als Journalistin strebe ich es nicht an, mich auf die Seite einer | |
| Machtgruppe zu schlagen, sondern ich will die Perspektive der | |
| Verletzlichen zeigen. Das sind die Millionen Venezolaner*innen im Exil oder | |
| noch in Venezuela, die leiden. Ich sehe meine Rolle als Übersetzerin und | |
| berichte von aktuellen Ereignissen. Wenn Guaidó oder Maduro etwas sagt, | |
| muss es in einen Kontext gestellt werden, weil jede Aussage eine | |
| Vorgeschichte besitzt. Meine Aufgabe ist es nicht zu sagen, wer lügt, aber | |
| indem ich alles in einen Kontext stelle, können sich die Menschen ihr Bild | |
| machen. | |
| Wie arbeiteten Sie zuletzt in Venezuela, ehe Sie das Land verließen? | |
| Da viele Medienfirmen und -häuser ihre Stellen reduzierten, verlor auch ich | |
| Ende 2018 meinen Job. In den ersten Monaten dieses Jahres berichtete ich | |
| aktiv von der Straße aus. Ich interviewte Bürger*innen und | |
| Politiker*innen und berichtete über alle Demonstrationen, die es ab | |
| Januar in Caracas gab, bis ich das Land verließ. Am 23. Februar reiste ich | |
| in die kolumbianische Grenzstadt Cúcuta. An dem Tag sollten mehrere Lkws | |
| Hilfsgüter einführen. Ich war gezwungen, von der kolumbianischen Seite aus | |
| zu berichten. Alle Journalist*innen, die sich auf der venezolanischen Seite | |
| befanden, wurden festgenommen. | |
| Wie hat sich Ihr Leben verändert, seit Sie in Chile sind? | |
| Ich hatte großes Glück, weil ich ein Visum von der chilenischen Regierung | |
| bekommen habe. Damit habe ich große Vorteile, kann ein Bankkonto eröffnen | |
| und erhalte einen chilenischen Ausweis. Das Erste, was ich in Chile getan | |
| habe, war, Zeitungen zu kaufen. In Venezuela zirkulieren nur noch ein oder | |
| zwei, aber zensiert und mit gerade mal acht Seiten. Ich kann endlich wieder | |
| das Fernsehen benutzen. Ich hatte es mir abgewöhnt, den Fernseher in | |
| Venezuela einzuschalten, weil die Kanäle nicht mehr informierten. Ich | |
| merke, wie sehr ich noch an alten Gewohnheiten hänge. | |
| In diesem Moment bin ich immer noch sehr eng mit Venezuela verbunden. Ich | |
| führe weiterhin Interviews mit Politiker*innen und Menschen, die in | |
| Venezuela geblieben sind. Ich habe mich so daran gewöhnt, immer mit Angst | |
| zu berichten, alles zu hinterfragen und zu reflektieren, und nun kann ich | |
| das erste Mal seit Jahren frei berichten. | |
| 29 Jul 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Menschenrechte-in-Venezuela/!5609631 | |
| [2] /Pressefreiheit-in-Venezuela/!5142029 | |
| [3] /Demonstrationen-in-Venezuela/!5047542 | |
| [4] /US-amerikanisches-TV-Team-in-Venezuela/!5576843 | |
| ## AUTOREN | |
| Jule Damaske | |
| ## TAGS | |
| Venezuela | |
| Schwerpunkt Pressefreiheit | |
| Nicolás Maduro | |
| Hugo Chavez | |
| Lesestück Interview | |
| Venezuela | |
| Sebastián Piñera | |
| Venezuela | |
| Venezuela | |
| Maduro | |
| Venezuela | |
| Billy Six | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Reaktion auf Venezuela-Sanktionen: Maduro weist EU-Botschafterin aus | |
| Die Spannungen zwischen Brüssel und Venezuela verschärfen sich. Die EU | |
| hatte zuvor Strafmaßnahmen gegen mehrere Politiker aus Maduros Umfeld | |
| verhangen. | |
| Unruhen und Proteste in Chile: Notstand in fünf weiteren Städten | |
| Nach gewaltsamen Unruhen hat Chiles Regierung den Ausnahmezustand | |
| ausgeweitet. Im Großraum Santiago bleiben am Montag die Schulen | |
| geschlossen. | |
| Schriftstellerin Karina Sainz Borgos: „Logik aus Rache und Ressentiment“ | |
| Nichts wie weg: Karina Sainz Borgos brisanter Roman „Nacht in Caracas“ | |
| verhandelt den Zerfall des ehemaligen Modellstaates Venezuela. | |
| Neue US-Sanktionen gegen Venezuela: Trump lässt Vermögen einfrieren | |
| Die US-Regierung verschärft die Sanktionen gegen die venezolanische | |
| Regierung. Oppositionsführer Juan Guaidó begrüßt die Maßnahmen. | |
| Aus Le Monde diplomatique: Trumps Taskforce gegen Maduro | |
| Die USA versuchen einen Regimewechsel in Venezuela herbeizuführen. Die | |
| Lima-Gruppe verfolgt dabei auch eine eigene Agenda. | |
| Menschenrechte in Venezuela: Vereinte Nationen kritisieren Gewalt | |
| UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet erhebt schwere Vorwürfe | |
| gegen Venezuelas Regierung. Dazu gehören außergerichtliche Hinrichtungen. | |
| Deutscher Reporter Billy Six: „Kann ich nicht behaupten“ | |
| Nach seiner Freilassung aus venezolanischer Haft erhebt Billy Six Vorwürfe | |
| gegen die Bundesregierung. Sein Anwalt Amado Vivas ist zurückhaltender. |