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# taz.de -- Morde an Frauen: Verbrechen mit System
> Viel zu oft werden Morde an Frauen in Deutschland verharmlost.
> Ausgerechnet von Mexiko könnte die deutsche Rechtsprechung einiges
> lernen.
Bild: „Der Staat ist schuldig“– Femen-Aktivistinnen bei einer Protestakti…
Im letzten Jahr wurden in Deutschland 123 Frauen durch ihren (Ex-)Partner
getötet. Das bedeutet: Alle zwei bis drei Tage stirbt eine Frau aufgrund
von häuslicher Gewalt. Doch diese Zahlen sind nur die Spitze des Eisbergs.
Darunter verbergen sich versuchter Mord, schwere Körperverletzung,
Vergewaltigung und Misshandlung – und Mord an Frauen, bei denen nicht der
(Ex-)Partner der Täter war.
Wer sich einen aktuellen Überblick über die Gewalt an Frauen und Mädchen in
Deutschland verschaffen möchte, muss nur die [1][Petition der Professorin
Kristina Wolff bei change.org] verfolgen: Beinahe täglich werden dort neue
Fälle dokumentiert – ein düsteres Bild von frauenverachtender Gewalt, das
so direkt keiner Statistik zu entnehmen ist.
Die fehlenden Zahlen sind nur ein Versäumnis von vielen: Der Staat
scheitert in seiner Aufgabe, die Frauen in diesem Land vor Gewalt zu
schützen. Zudem mangelt es an öffentlichem Bewusstsein für das Problem.
Wenn wir in den Medien von Frauenmorden lesen, dann häufig nur als
Randnotiz, gerne auch mit dem Begriff „Familiendrama“ betitelt. Erst in den
letzten Jahren wird vereinzelt von „Femizid“ gesprochen; die
Bundesregierung jedoch verweigert bis heute die Anerkennung des Begriffs
für Mord an Frauen in Deutschland.
## Patriarchales und diskriminierendes Gedankengut
Auch Strafverfolgung und Rechtsprechung sind von patriarchalem und
diskriminierendem Gedankengut durchsetzt. Ein Beispiel dafür ist der Fall
Juliet H., der gerade in Hamburg verhandelt wird. Juliet H. floh bereits
2017 aus Angst vor ihrem Ex-Partner ins Frauenhaus. Dennoch wurde sie von
ihm im Dezember 2018 getötet. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage – nicht
wegen Mordes, sondern wegen Totschlags. Die Argumentation: Weil er in der
Vergangenheit bereits gewalttätig geworden sei, habe Juliet H. davon
ausgehen können, dass er sie erneut angreifen würde. Somit seien die
Voraussetzungen zu einer Anklage wegen Mordes nicht gegeben.
Juliet H. ist kein Einzelfall. [2][Im Bericht der CEDAW-Allianz], der dem
Ausschuss der UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung
der Frau (CEDAW) vorgelegt wurde, steht kritisch: „Trennungstötungen […]
werden teils als minder schwerer Fall des Totschlags mit sehr milden
Strafen bedacht, weil das Gericht die Motivlage des verlassenen Ex-Partners
als nachvollziehbar und strafmildernd wertet.“
Im Umgang mit frauenverachtender Gewalt könnte Deutschland ausgerechnet von
Mexiko – dem Land mit einer der höchsten Femizidraten der Welt – lernen.
Denn die Feministinnen sind hier schon einen weiten Weg gegangen.
Anfang der 1990er Jahre wurden in Ciudad Juárez immer wieder Frauen
ermordet. Die Leichen wurden an öffentlichen Orten abgelegt und trugen
Anzeichen extremer Gewalt. Medien und Behörden sprachen von
„Familiendramen“ und machten die Opfer selbst verantwortlich für die Taten:
Sie hätten zu kurze Röcke getragen, seien mit dem Freund abgehauen oder
nachts ausgegangen.
Es hat einen langen Kampf der Familien der Opfer gebraucht, bis anerkannt
wurde, dass das gemeinsame Motiv dieser Morde strukturelle Diskriminierung
und Hass gegenüber Frauen war. So wie es unter anderem die südafrikanische
Soziologin Diana Russell mit ihrem Begriff „Femizid“ definiert hat
beziehungsweise die mexikanische Anthropologin Marcela Lagarde mit ihrer
Erweiterung „Feminizid“: Die Tötung einer Frau oder eines Mädchens aufgru…
ihres Geschlechts. Das kann die Tötung von Sexarbeiterinnen durch ihre
Zuhälter sein, sogenannte Ehrenmorde oder die Tötung der Frau durch ihren
Partner.
## Frauenmord als eigener Straftatbestand
Das politische Bewusstsein dafür, dass es diese Form des Mordes gibt, und
dass sie besonders behandelt werden muss, ist in Mexiko deutlich höher als
in Deutschland. Schon 2007 fand der Begriff Feminizid Eingang in das
„Gesetz über den Zugang von Frauen zu einem gewaltfreien Leben“. 2012 wurde
der Feminizid ein eigener Straftatbestand.
Und auch wenn die Zahlen schlimmer sind denn je – neun Frauen werden pro
Tag in Mexiko ermordet –, so gibt es dennoch ein Protokoll, dem die
Ermittlungsbehörden bei jedem Frauenmord folgen müssen. Wurde sexuelle
Gewalt angewendet? Wurden dem Opfer Verletzungen zugefügt, um es zu
erniedrigen? Gab es im Umfeld des Opfers Gewalt oder vorherige Drohungen?
All dies sind Zeichen dafür, dass die Frau wegen ihres Geschlechts ermordet
wurde. An einigen Gerichten werden gendersensible Verhandlungen
durchgeführt, etwa mit psychologischen Gutachten, die die Abhängigkeits-
und Gewaltsituation bewerten, in der sich das Opfer befand. Auch der
gesellschaftliche Kontext wird einbezogen, etwa wenn die Frau aufgrund
sozialer Herkunft oder Armut nicht aus einer gewalttätigen Beziehung
ausbrechen konnte.
„Ziel des Rechts ist es, asymmetrische Machtbeziehungen und Systeme der
Ungleichheit zu bekämpfen. Die Justiz hat gegenüber der Gesellschaft die
Verantwortung, die Einbeziehung von Vorurteilen, die gegen den Grundsatz
der Gleichheit verstoßen, in ihren Gerichtsentscheidungen zu vermeiden.“
Die Richtlinien des mexikanischen Obersten Gerichtshofs zu „Rechtsprechung
mit Gender Perspektive“ sind unserer Meinung nach bahnbrechend.
Von der mexikanischen Rechtsprechung sollte sich Deutschland eine große
Scheibe abschneiden. Denn eine Wiederholung der Tat zu verhindern ist
elementare Aufgabe des Staates, mit allen Mitteln der Prävention und
Sanktion. Wir brauchen eine offizielle Anerkennung von Femiziden, die über
Partnerschaftsgewalt hinausgeht! Wir brauchen Datenerhebung und Forschung,
um das Problem bekannter zu machen, und verbindliche Protokolle für Polizei
und Staatsanwaltschaft. Auch Richter*innen müssen entsprechend aus- und
fortgebildet werden, um Diskriminierung und Re-Viktimisierung durch
Gerichtsurteile zu vermeiden.
Fangen wir endlich an, frauenverachtende Gewalt in Deutschland ernst zu
nehmen!
21 Jul 2019
## LINKS
[1] https://www.change.org/p/stoppt-das-t%C3%B6ten-von-frauen-savexx-katarinaba…
[2] https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsinstrumente/verei…
## AUTOREN
Sonja Gerth
Birte Rohles
## TAGS
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häusliche Gewalt
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