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# taz.de -- Tragikomödie „Britt-Marie war hier“: Putzen und Ungehorsam
> Tuva Nowotny erzählt „Britt-Marie war hier“. Die schwedische
> Coming-of-Silverage-Geschichte hat eine emanzipatorische Absicht.
Bild: Für sie ist Ordnung das ganze Leben: Britt-Marie (Pernilla August)
„Döstädning“ kommt aus Schweden und bedeutet „Death Cleaning“. Es
bezeichnet eine Art des Ausräumens, bei der man seine Wohnung so
hinterlässt, dass man jederzeit sterben könnte, ohne dass die
Hinterbliebenen bei der Haushaltsauflösung auf Massen von Zeug hocken
bleiben: [1][Alles Überflüssige wird entsorgt], der Rest akkurat verstaut –
als ob man nie da gewesen wäre. Die Autorin eines schwedischen Bestsellers
zu diesem Trend ist angeblich zwischen 80 und 100 Jahre alt. Und will ihre
Verwandten anscheinend nicht überfordern.
Die Verbindung zwischen Alter und einer peniblen Ordnung, bei der alles
Persönliche, alles Impulsive, alles Sinnlose getilgt ist, stellt auch Tuva
Nowotnys Tragikomödie „Britt-Marie war hier“ her. „Chaos – das Ende der
Welt“, lässt die schwedische Regisseurin ihre Protagonistin, die 63-jährige
Hausfrau Britt-Marie, aus dem Off erklären. Britt-Marie (Pernilla August)
putzt, kocht und poliert ihrem Mann Kent (Peter Haber) seit 40 Jahren das
gemeinsame Dasein in der Kleinstadt.
Für sie ist Ordnung nicht das halbe, sondern das ganze Leben – und darauf
ist sie stolz. Als Kent einen Unfall hat und Britt-Marie im Krankenhaus von
seiner langjährigen außerehelichen Beziehung erfährt, wäre der Startschuss
für die klassische, vorhersehbare, skandinavische Senior*innen-Komödie im
„Ein Mann namens Ove“-Stil gegeben: Kauzige Rentnerin findet durch einen
emotionalen Schock heraus, dass die Welt doch noch mehr zu bieten hat als
Silberpolitur und Backpulver und muss einen neuen Anfang wagen.
Doch Nowotny geht es nur bedingt um den komödiantischen Aspekt – auch wenn
immer wieder leutselig-heitere Akkordeonmusik die Stimmung vorgibt und auch
wenn die Idee der langweiligen Hausfrau ein Humorklischee und Basis für
Tausende von frauenfeindlichen Witzen à la „Brettspiel für Frauen? –
Bügeln“ ist.
## Ein Kindheitstrauma in hohem Alter
Stattdessen befreit sich Britt-Marie rasant von ihren Fesseln – und beweist
sich als Stehaufmännchen: Nachdem sie ihren untreuen Mann verlassen hat,
wird sie auf dem Arbeitsamt zunächst mit der Realität ihrer Situation
konfrontiert. „Es gibt nicht viel für eine Frau deines Alters …“, sagt d…
Vermittlerin und bietet Britt-Marie an, als Betreuerin und Fußballtrainerin
für das Jugendzentrum in einem entlegenen Kaff namens Borg zu arbeiten.
Britt-Marie greift zu. Und muss ihre Selbst- oder besser Neufindung fortan
in einem verwahrlosten Jugendheim vorantreiben, in dem die
Kinderfußballmannschaft FF Borg sehnsüchtig auf bessere Zeiten – und einen
erfolgversprechenden Trainer – hofft.
So wird eine Coming-of-Silverage-Geschichte auf den Weg gebracht, die ihren
Charme aus dem affektiven Subtext zieht, der von Nowotny in ihre Adaption
eines Bestsellerromans von Fredrik Bakmann subtil eingearbeitet wurde:
Britt-Maries Verhalten, das pathologische Putzen, könnte in Wirklichkeit
aus einem Kindheitstrauma rühren, das mit ihrer älteren Schwester verknüpft
ist.
In entsprechenden Rückblenden wird der Film sehr zärtlich und emotional.
Was Britt-Marie zudem lernen muss, geht über das Erkennen der eigenen
Bedürfnisse hinaus. Denn ausgerechnet ein aus schwierigen Verhältnissen
stammendes Vereinsmitglied, ein Mädchen mit Migrationshintergrund, bringt
der unerfahrenen Trainerin die schwedische Tradition des zivilen
Ungehorsams nahe – mit Folgen, die das Dörfchen Borg bis in die politische
Ebene erschüttern.
## Ohne Spuren war man nicht da
Die schwedische Schauspielerin Pernilla August, die oft für Ingmar Bergman
spielte und in zwei „Star Wars“-Filmen Anakin Skywalkers Mutter Shmi gab,
interpretiert das nach außen hin langweilige Heimchen am Herd voller Würde
und mit einer leise brodelnden Energie, die sich in Britt-Maries
Willensstärke zeigt.
Britt-Marie wird am Ende entgegen der „Döstädning“-Theorie dem Dörfchen
Borg und seinen Bewohner*innen etwas von sich dalassen, etwas
Chaotisch-Persönliches, etwas, das bereits im Filmtitel „Britt-Marie war
hier“ angelegt ist. Denn wenn man keine Spuren hinterlässt, war man doch
eigentlich gar nicht da.
20 Jun 2019
## LINKS
[1] /Ordnungs-Hype-auf-Netflix/!5567176
## AUTOREN
Jenni Zylka
## TAGS
Film
Schweden
Altern
Biologie
Benito Mussolini
Journalismus
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