| # taz.de -- Die Wahrheit: Limericks auf Tübinger Tapeten | |
| > Nach einem peinlichen Archivfund steht der Dichter Friedrich Hölderlin | |
| > urplötzlich im Zentrum der Kritik. | |
| Einen scharfen Tadel sprach der Schweizer Germanist Alfred Liede Mitte der | |
| sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts aus, nachdem er Christian Morgensterns | |
| „Galgenlieder“ gelesen hatte: Es seien bloß „die Trümmer eines | |
| ungeschriebenen Werks. Jedes Galgenlied, das sein Motiv virtuos überspielt, | |
| steht anstelle eines ernsten lyrischen Gedichts, für das Morgenstern die | |
| dichterische Kraft fehlte.“ | |
| 2001 fragte sich Robert Gernhardt, was darauf zu erwidern sei. Und er gab | |
| die Antwort: „Vielleicht dies: Daß jedes komische Galgenlied für ein | |
| verfehltes ernstes Gedicht steht, ist so triftig wie die Behauptung, | |
| Hölderlin habe eigentlich ständig Limericks schreiben wollen, nur seien | |
| immer Hymnen herausgekommen.“ | |
| ## Fund bei Aufräumarbeiten | |
| Prophetische Worte! Denn im Nachlass des Dichters Friedrich Hölderlin | |
| (1770–1843), der bis heute für den hohen Ton seiner Verse berühmt ist, sind | |
| jetzt tatsächlich mehr als zweihundert Limericks aufgefunden worden. Das | |
| Verdienst dieser Entdeckung gebührt dem Germanisten Uwe Scholz von der | |
| Universität Tübingen. Bei Aufräumarbeiten im Hölderlin-Archiv der | |
| Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart stieß er auf einen Karton mit | |
| der Aufschrift „Turmzimmer/Tapetenreste“, dem bis dahin keine Beachtung | |
| geschenkt worden war. Scholz fand jedoch heraus, dass Hölderlin auf der | |
| Rückseite der Tapetenstücke aus seiner Turmwohnung am Tübinger Neckarufer | |
| Gedichte notiert hatte. | |
| Und zwar durchweg Limericks. Zum Beispiel diesen hier: „Zwei Himmlische | |
| jagte ein Leu / Von Kalkutta bis nach Hanoi. / Der eine entkam, / Doch der | |
| and’re war lahm. / So schied sich vom Weizen die Spreu.“ | |
| Und diesen: „Der Königin goldenes Haupt / War verblaßt und vergilbt und | |
| verstaubt. / Man schrie ihr ins Ohr: / ‚Habt Ihr heut noch was vor?‘ / Doch | |
| da war sie schon gänzlich ertaubt.“ | |
| ## Erbärmliche Beispiele | |
| „Wir haben es hier mit einem literarischen Fund zu tun, der viele Fragen | |
| aufwirft“, heißt es in einer Pressemitteilung der Tübinger | |
| Hölderlin-Gesellschaft. „Vorläufig können wir aber schon feststellen, dass | |
| Hölderlins Limericks qualitativ nur wenig hinter seinen Hymnen und Oden | |
| zurückstehen.“ | |
| Der Anglist Brian Smith von der University of Glasgow ist da ganz anderer | |
| Ansicht: Die Limericks von Friedrich Hölderlin, hat er gegenüber der Sunday | |
| Times erklärt, seien „so ziemlich die schlechtesten, die er je zu Gesicht | |
| bekommen habe“. Sie seien „witzlos, geistlos und banal“. Als erbärmlichs… | |
| Beispiel ist von Smith der folgende Limerick angeführt worden: „Ein | |
| Dalmatiner aus Bingen / Erlernte statt Bellen das Singen. / Doch er klang | |
| recht malad, / So dass niemand ihn bat, / Den Beweis seiner Kunst zu | |
| erbringen.“ | |
| Das sei „a piece of shit“, hat Smith erklärt, und der renommierte | |
| Literaturwissenschaftler Ralf Sotscheck vom Trinity College in Dublin gibt | |
| ihm recht: „Hölderlin und die leichte Muse – das war eine Mesalliance. Man | |
| muss zwar anerkennen, dass er sich große Mühe gegeben hat, das Reimschema | |
| zu erfüllen und den Lesern etwas Witziges unterzujubeln, aber bei | |
| genauerem Hinsehen überwiegt dann doch die Erschütterung, mit der man sich | |
| fragt, was einen Poeten vom Range Hölderlins dazu veranlasst haben mag, auf | |
| einem derartig primitiven Niveau herumzudichten. Nach den mir vorliegenden | |
| Informationen haben sich mittlerweile fünf Träger des | |
| Friedrich-Hölderlin-Preises dazu entschlossen, den Preis zurückzugeben, | |
| weil sie nicht mit jemandem in Verbindung gebracht werden wollen, „der | |
| solch klägliche Verse schreibt …“ | |
| ## Bullshit auf schadhafter Tapete | |
| Nur unvollständig ist ein Limerick überliefert, den Hölderlin mit „Der | |
| Neckar“ überschrieben hat: „Der Neckar wollt’ einst nicht mehr fließen,… | |
| Denn ihn tat das Fließen verdrießen. / Da sagte der Rhein: / ‚Fließt du | |
| nicht in mein rein, / Dann […]‘“ – und hier fehlen nun zwei Silben, da … | |
| betreffende Stück Tapete schadhaft bist, aber das Ende der Schlusszeile | |
| lässt sich wieder einwandfrei entziffern: „Ist das nicht zum Schießen?“ | |
| „Nein, das ist keineswegs zum Schießen, sondern Bullshit“, sagt Sotscheck. | |
| Auf Kritik ist auch ein Limerick gestoßen, den Hölderlin dem griechischen | |
| Sonnengott gewidmet hat: „Vater Helios buk einen Kuchen, / Um als Bäcker | |
| sich mal zu versuchen. / Doch die Backform zersprang, / Und der Kuchen | |
| mißlang, / Ei, da hörte man Helios fluchen!“ | |
| Nach Ansicht des Philologen Manfred Schmitthenner von der Bebenhausener | |
| Hölderlin-Forschungsstelle hat Hölderlin sich damit tief unter das Niveau | |
| seiner eigenen Rezeption der altgriechischen Mythologie begeben. Mehr als | |
| 30 Jahre seines Lebens hat Schmitthenner mit der Untersuchung der Werke | |
| Hölderlins verbracht, doch damit ist nun Schluss: Ebenso wie Schmitthenner | |
| legen in diesen Tagen mehr als dreihundert Germanisten in aller Welt ihre | |
| Hölderlin geweihte Arbeit für immer nieder, weil ihnen die Limericks aus | |
| seinem Nachlass die Freude an der Beschäftigung mit seinen Werken verdorben | |
| haben. | |
| ## Dichter ohne Bleiberecht | |
| An diesem Entschluss dürfte auch schwerlich jener Limerick etwas ändern, in | |
| dem Hölderlin auf den Weinbau eingegangen ist: „Ihr Moselreben, ihr fetten, | |
| / Geleget hat euch in Ketten / Der Franzmann voll Gier, / Und uns bleibt | |
| nur das Bier. / So steht es in allen Gazetten.“ Vor allem diese Zeilen sind | |
| es, die den Vorstand der Vereinigung Deutsch-Französischer Gesellschaften | |
| für Europa e. V. zu einer Krisensitzung und der Forderung veranlasst haben, | |
| das Hölderlin-Mausoleum auf dem Tübinger Stadtfriedhof für den | |
| Besucherverkehr zu schließen, bis eine paritätisch besetzte | |
| Enquêtekommission darüber entschieden hat, ob dieser Dichter noch ein | |
| Bleiberecht in der öffentlichen Erinnerung genießen sollte oder nicht. | |
| Berufen worden sind in diese Kommission inzwischen der | |
| Hölderlin-Preis-Träger Wolf Biermann, der Philosoph Peter Sloterdijk, die | |
| Bürgerrechtlerin Alice Schwarzer und die französischen Publizisten Bernard | |
| Henri-Lévy und Albert Camus sowie, was viele überraschen dürfte, der | |
| Schauspieler Gérard Depardieu, den man auch als Obelix kennt. | |
| Verantwortlich für die Berufung zeichnet ein Komitee, das angeblich aus dem | |
| Schweizer Theologen Hans Küng und irgendeinem Schnarchsack aus der | |
| Stockholmer Nobelpreisjury besteht. | |
| Letzte Meldung vor Redaktionsschluss: Der Opern- und Theaterregisseur Hans | |
| Neuenfels hat sich dazu entschlossen, die Affäre um Hölderlins Limericks | |
| 2020 bei den Salzburger Festspielen auf die Bühne zu bringen. Mit Heiner | |
| Lauterbach als Hölderlin. A splendid time is guaranteed for all. | |
| 15 Jun 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Gerhard Henschel | |
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