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# taz.de -- Die Wahrheit: „Schleicht euch, ihr Würstchen!“
> Der andere Herbert Wehner: Jetzt erscheinen des SPD-Zuchtmeisters
> gesammelte Büttenreden aus dem Karneval in Buchform.
Bild: Herbert Wehner schimpft 1970 den Bundestag zusammen
Er galt als „Zuchtmeister“ der SPD: Herbert Wehner (1906–1990). Von 1949
bis zu seinem Ausscheiden im Jahr 1983 saß er im Deutschen Bundestag, und
seit 1969 hatte er mit weithin berüchtigter Strenge die SPD-Fraktion
geführt. Legendär sind die Schimpfkanonaden, mit denen er die
Unionspolitiker bedachte – „Strolch“, „Lügner“, „Quatschkopf“, �…
„Schwein“ und „Düffel-Doffel“ zählten noch zu den charmanteren
Beleidigungen.
Einmal sah sich die gesamte Unionsfraktion von Wehner als „nihilistischer
Pöbelhaufen“ verunglimpft, und 1975 schleuderte er dem CDU-Abgeordneten
Heiner Möller die berühmten Worte entgegen: „Waschen Sie sich erst einmal!
Sie sehen ungewaschen aus!“ Unvergessen ist auch die Aufforderung, die
Wehner 1979 an Friedrich Zimmermann richtete, den Vorsitzenden der
CSU-Landesgruppe: „Schämen Sie sich, Sie Frühstücksverleumder!“
Diese und andere Bosheiten trugen Wehner 77 parlamentarische Ordnungsrufe
und das Image eines grimmigen und bärbeißigen Mannes ein, mit dem nicht gut
Kirschen essen gewesen wäre. Vergröbert wurde dieses Bild noch durch
Wehners barschen Tonfall und sein finsteres Mienenspiel, das selbst
abgebrühten Bonner Journalisten das Blut in den Adern gefrieren ließ, wenn
sie ihn interviewen mussten.
Umso größer ist nun die Verblüffung über die Nachricht, dass Wehner einem
Karnevalsverein angehörte. Im Jahr 1948 trat er auf einer Urlaubsreise in
Oberschwaben als externes Mitglied in die Narrenzunft Biberach ein und
hielt dort fortan alljährlich eine Büttenrede. Davon gibt es stenografische
Mitschriften, die der Heimatforscher Lukas Pfleiderer aus Ingoldingen
letztes Jahr im Vereinsheim der Biberacher Narrenzunft e. V. entdeckt hat.
Sie werden im April im Verlag des Berliner Publizisten Edgar Alwin Berendt
in Buchform erscheinen – eine Publikation, die dafür sorgen könnte, dass
die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie umgeschrieben werden muss.
## Scharf austeilender Büttenredner
Die vorab veröffentlichten Auszüge lassen darauf schließen, dass Wehner
auch als Büttenredner scharf austeilen konnte, wobei er allerdings mehr
Wert auf die rhetorische Wucht als auf das korrekte Versmaß legte. Im Jahr
1952 nahm er den Bundeskanzler Konrad Adenauer und dessen
Wiederbewaffnungspläne aufs Korn: „Diesem feinen Herrn mit dem Adlerprofil
/ ist ein Volk ohne Waffen viel zu zivil. / Eine neue Wehrmacht, so meint
er, muß her, / denn was sind wir Germanen schon ohne Ger? / Bald haben die
Generäle des Führers von Neuem das Sagen. / Wer sich da nicht erbrechen
will, braucht einen starken Magen!“
Im traditionell linken Biberach, das im „Dritten Reich“ ein
antifaschistisches Widerstandsnest gewesen war, kamen diese Worte gut an:
Das Sitzungsprotokoll verzeichnet „donnernden Applaus“. So war es auch
1964, als Wehner den Skandal um Ingmar Bergmans Spielfilm „Das Schweigen“
thematisierte: „Über Schwedenfilme regen sie sich auf, die Christen, / die
sich unter Adolf in die Hose pißten! / Damals duldeten sie jede
Schweinerei. / Was sie heute sagen, ist uns einerlei!“
## Maoistische Studenten
Zu einem Eklat kam es 1969, als maoistische Studenten den Hexenball der
Biberacher Narrenzunft zu sprengen versuchten und ein „Teach-in“ über einen
Vergleich der Preise abhalten wollten, die seinerzeit in Biberach und in
Peking für Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln verlangt wurden.
An diesem Tag lief Wehner zu seiner Bestform auf. Als die Störer
eindrangen, befand er sich gerade mitten in seiner Büttenrede. Aus dem
Stegreif bellte er die Verse in den Saal: „Maoisten wollt ihr sein, ihr
Laffen? / Na, dann zeigt uns doch mal eure Waffen! / Schleicht euch heim,
ihr Würstchen, aber schnell, / denn sonst setzt’s was auf das hintere
Gestell!“ Woraufhin die eingeschüchterten Maoisten den Rückzug antraten.
Selbst Wehners engste politische Weggefährten wussten nichts von seiner
Mitgliedschaft in der Narrenzunft Biberach. „Das hat er vor uns allen
geheimgehalten“, sagt Hans-Jochen Vogel, der 1983 Wehners Nachfolge als
Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion antrat. „Vielleicht brauchte er das
als Ventil. Um mal Dampf abzulassen …“
Der Veröffentlichung von Wehners gesammelten Büttenreden sieht das
politische Berlin jetzt mit großer Spannung entgegen. Einige der noch
lebenden Veteranen erzittern bereits bei dem Gedanken, dass Wehner auch sie
geschmäht haben könnte. Nur in Biberach herrscht allgemeine Freude. Dieses
Buch komme „zur rechda Zeid“, hat die Pressestelle der Narrenzunft Biberach
erklärt. „Für uns isch des wie a Sechsr im Loddo!“
6 Mar 2019
## AUTOREN
Gerhard Henschel
## TAGS
Karneval
Büttenreden
Kolumne Die Wahrheit
Lyrik
Gedicht
Boulevard
Iffland-Ring
Derrick
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