# taz.de -- Arbeit in Serie: Lifecoach: „Ich will die Arbeit verändern“ | |
> Julia S.* coacht Führungskräfte und Menschen, die in einer Jobkrise | |
> stecken. Sie findet, die Menschen müssen wieder mehr auf sich selbst | |
> schauen. | |
Bild: Lieber Inspiration und Einfühlungsvermögen vermitteln als Angst und Mac… | |
Der Arbeitsort | |
Julia S. arbeitet viel zu Hause an ihrem Schreibtisch, im Terrassenzimmer. | |
Gerade hat sie sich außerdem in einem kleinen Co-Working-Space eingemietet, | |
der auch über einen Coaching-Raum verfügt. Dort gefällt es ihr sehr gut, | |
weil da „ähnliche Wichtigkeiten und Werte herrschen“. Wenn Julia S. mit | |
Unternehmen arbeitet, dann meist vor Ort. | |
Der Mensch | |
Julia S. ist eine sehr präsente, zugewandte, offene und neugierige Person. | |
Sie hört mit großen Augen zu und lässt ihr Gegenüber stets aussprechen. Die | |
gut strukturierten Schilderungen ihres Arbeitsalltags beginnen stets beim | |
Wesentlichen und enden mit Beispielen zur Verdeutlichung. Sie sieht nicht | |
aus wie eine strenge Businessfrau und sagt, es sei ihr wichtig, immer sie | |
selbst und nicht verkleidet zu sein. Heute trägt sie ihr schulterlanges, | |
braunes Haar offen, eine kurze Jeans und ein tomatenrotes Shirt, dazu | |
silberne Sandalen. Der schnittige Fahrradhelm liegt neben ihr auf dem | |
Tisch. | |
Wie alles begann | |
1999 bis 2006 BWL-Studium mit viel Arbeit nebenbei. Dann Jobs in | |
Personalabteilungen von Unternehmen, oft im Hightech-Bereich, seit 2012 in | |
Berlin. Ihr Schwerpunkt war die Unterstützung von Führungskräften, die oft | |
viel Beratung brauchten. Aus diesem Job und der „Begeisterung für die | |
zwischenmenschliche Arbeit“ heraus entstand der Wunsch, eine | |
Coaching-Ausbildung zu machen. Erste kunstorientierte Coaching-Ausbildung | |
in Hamburg 2011, zweite Ausbildung in Berlin 2014, Yoga-Ausbildung 2017, | |
„um einen ganzheitlichen Aspekt hineinzubringen, aber auch um | |
festzustellen, dass die Menschen vor 5.000 Jahren Dinge wussten, die wir | |
uns jetzt wieder mühsam erarbeiten müssen“, lacht sie. Dann weiter Arbeit | |
in Personalabteilungen und Coaching nur nebenberuflich, schließlich letztes | |
Jahr der Entschluss, Anfang 2019 eine eigene Coaching-Firma zum Schwerpunkt | |
Arbeit aufzumachen. „Die Menschen suchen immer mehr Zufriedenheit im | |
Arbeitsleben und nehmen sich deshalb Beratung, um sich begleiten zu | |
lassen.“ | |
Der Arbeitsalltag | |
Seither coacht Julia S. Firmen, in denen Führungskräfte Probleme mit ihrer | |
Rolle haben oder sich einfach weiterentwickeln möchten, um ihren Alltag | |
besser zu leben und den Job mehr zu genießen. Oft kommen sie mit dem | |
Problem, dass ihre Ziele nicht erreicht werden. Sie verstehen nicht, warum | |
das so ist und haben daher das Gefühl, sie werden nicht akzeptiert. Da geht | |
es dann darum, dass sie lernen müssen, die anderen abzuholen, | |
wertschätzend, aber auch klar zu sein. Oder auch Dinge zu kommunizieren, | |
die sie für selbstverständlich gehalten haben. | |
Sie coacht aber auch viel Privatpersonen, die beispielsweise gerade in der | |
Jobkrise stecken. Oft fehle Anerkennung, sagt sie, oder es funktioniere | |
nicht mit dem Chef oder dem Team. Oder es sind Leute, die im Job | |
festhängen, nicht raus kommen oder nicht wissen, ob sie überhaupt raus | |
kommen wollen. „Sie haben manchmal die Haltung: „Alles ist schlecht, aber | |
was soll ich machen? Die Dinge sind, wie sie sind, ich kann nichts dran | |
ändern.“ In solchen Fällen arbeitet Julia S. mit ihren Kunden daran, dass | |
sie wieder ihre Eigenverantwortung erkennen und auch dann etwas zu tun, | |
wenn es manchmal aussichtslos erscheint. „Das sind oft nur kleine | |
Stellschrauben“, sagt sie. Zum Beispiel könne man das nächste Gespräch mit | |
dem Chef einfach mal selbst einleiten anstatt auf die nächste Einladung zu | |
warten. Manchmal reiche auch, sich bewusst zu machen, was für ein | |
Selbstbild man hat – welche inneren, unterbewussten Überzeugungen und | |
Glaubenssätze – und sich mit dieser Erkenntnis selbst bei der Interaktion | |
zu beobachten. „Dann macht man mal etwas anders, es fällt den anderen auf | |
und das ganze System beginnt, sich wenigstens ein bisschen zu ändern.“ | |
Bei alldem ist Julia S. sehr wichtig zu betonen, dass ihre Kunden selbst | |
herausfinden müssen, was gut für sie ist. „Ich gebe nur einen Rahmen und | |
stelle Fragen.“ Oder anders formuliert: „Ich unterstütze die Kunden dabei, | |
durch Angebote meiner Beobachtungen und einen sicheren vertraulichen Rahmen | |
ihre eigenen Themen herauszufinden und so in die Veränderung zu kommen.“ | |
Die Arbeitszeit | |
Der Mann von Julia S. arbeitet sehr viel und sie haben drei Kinder. Deshalb | |
möchte sie selbstbestimmt arbeiten und frei entscheiden, wie viel sie | |
arbeitet. Eigentlich will sie maximal 20 Stunden pro Woche arbeiten, | |
manchmal gibt es aber auch Wochen, wo es mehr wird, weil Kunden mehr von | |
ihr brauchen. „Danach muss es aber auch wieder weniger werden“, grinst sie. | |
Julia S. mag es sehr, dass es in ihrem Beruf oft sehr intensive Gespräche | |
gibt, davor und danach aber auch viel Zeit, zu reflektieren. Die Arbeit, so | |
Julia S., sei „geistig anspruchsvoll“. Sie hat ungern mehr als zwei | |
Gespräche am Tag. „Das ist eigentlich schon viel“, findet sie. Wenn sie mit | |
Unternehmen zusammenarbeite, wo die Themen breiter werden, dann gibt es | |
auch Beratungsgespräche, die einen ganzen Tag dauern können. | |
Die Bezahlung | |
Privatkunden bezahlen bei Julia S. 120 Euro die Stunde, und eine Sitzung | |
dauert in der Regel 90 Minuten. Man startet mit mindestens drei Sitzungen. | |
Unternehmen zahlen 160 bis 180 Euro die Stunde, je nachdem, wie groß sie | |
sind. Manchmal ist Julia S. vier Tage am Stück in einer Firma, dann | |
verlangt sie pro Tag 1.600 Euro. Nach wenigen Monaten Selbstständigkeit | |
kann sie noch nicht sagen, wie viel Geld sie monatlich raus hat. „Es wäre | |
unrealistisch zu erwarten, dass die Familie jetzt schon davon leben | |
könnte.“ Darum deckt im Moment der Mann von Julia S. 75 Prozent der | |
Ausgaben. Aber sie hat den konkreten Plan, in spätestens fünf Jahren die | |
Familie selbst ganz zu tragen. Oder zumindest zu den 75 Prozent, die ihr | |
Mann jetzt trägt. | |
Der Lebensstandard, den es zu halten gilt: Julia S. und ihr Mann haben ein | |
Townhouse an einem Park gekauft, sie möchten zweimal im Jahr Urlaub machen | |
und sich gutes Essen leisten, lieber aus dem Bioladen als aus dem | |
Supermarkt. Weniger wichtig sind teure Autos und Kleider. „Vorsorge ist | |
allerdings ein Thema, wo ich noch nicht so drin bin. Aber wir haben das | |
Haus und sparen seit Jahren.“ | |
Das Gewissen | |
„Es ist für mich jetzt alles zu hundert Prozent stimmig. Coaching bewirkt | |
etwas. Es transformiert, ist etwas ganz Ehrliches und Vertrauliches.“ Julia | |
S. findet, sie kann ihren Job gut mit ihrem Gewissen vereinbaren. Auch, | |
wenn ihr Beruf dazu beiträgt, dass Unternehmen immer effizienter werden. | |
Denn das funktioniert nur, wenn Menschen gut miteinander arbeiten, wenn sie | |
achtsam zu sich selbst sind und auch einander wertschätzen. Das stiftet | |
Sinn und Glück. „Mein Ziel ist es, dass sich die Arbeitswelt zu einem | |
besseren verändert, ja.“ | |
Findet sie, dass unsere Gesellschaft unter einem Selbstoptimierungswahn | |
leidet? „Der Begriff ist falsch.“ Julia S. meint eher, die Menschen sollten | |
mehr „auf sich schauen.“ Sie sollten dazu vorzudringen, wer sie sind und | |
was sie erreichen möchten – und was sie dazu brauchen. „Für jeden Menschen | |
ist der Weg zu mehr Zufriedenheit ein anderer.“ Manche brauchen dafür mehr | |
Pausen, manche mehr Selbstdisziplin. | |
Die Wertschätzung | |
Die Bekommt Julia S. von ihren Kunden. „Die meisten sind sehr dankbar, auch | |
wenn ich immer sehr offen, direkt und kritisch bin.“ Wenn der Kunde nicht | |
möchte, dass bestimmte Dinge angetastet werden, dann werden sie auch nicht | |
angetastet. | |
Die Zukunft | |
Julia S. zitiert den Psychologen Siegfried Brockert: „Was die Therapie im | |
20. Jahrhundert war, wird das Coaching im 21. Jahrhundert werden.“ Julia S. | |
sagt, diese Entwicklung sei deutlich zu spüren am Coaching-Markt; es gebe | |
nicht nur immer mehr Coaches, es gebe einfach auch mehr Menschen, die sich | |
eine Begleitung für die verschiedenen Lebensphasen wünschen. | |
Außerdem weiß Julia S. viel darüber, wie schnell sich die Arbeitswelt | |
verändert. „Es gibt viele tolle, neue Organisationsmodelle, weg von | |
Hierarchie, gemeinschaftlich an Projekten zu arbeiten, und das hat große | |
Vorteile“, findet sie. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass manche | |
Unternehmen dafür aber noch nicht bereit sind. Und dass es auch sehr viele | |
gibt, die nach außen hin nicht hierarchisch auftreten wollen, in denen es | |
aber doch noch immer viel zu viele versteckte Hierarchien gibt. In solchen | |
Fällen findet es Julia S. dann sehr wichtig, dass die Führungskräfte nicht | |
mit Angst und Macht operieren, sondern mit Inspiration und Empathie. Sie | |
findet, dass es insgesamt in der Arbeitswelt noch sehr viel zu tun gibt. | |
Für sie ist das Coaching also ein Beruf, der viel Zukunft hat und den sie | |
noch lang wird ausüben wollen. | |
Was kaufen Sie sich mit unverhofften 100 Euro? | |
„Ich würde sie für die nächste Ausbildung sparen. Immer wieder gibt es neue | |
Methoden. Am liebsten würde ich mich andauernd weiterbilden.“ | |
*Name geändert | |
12 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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