| # taz.de -- Arbeit in Serie: Mikrojobber: „Man kommt nie an“ | |
| > Lucas studiert, muss sich seinen Unterhalt finanzieren. Er mikrojobbt. | |
| > Das macht keinen Spaß und bringt kaum Geld, Lucas ist aber darauf | |
| > angewiesen. | |
| Bild: Mikrojobber müssen flexibel sein. Sie machen, wofür es Geld gibt – we… | |
| Der Arbeitsort | |
| Lucas hat kein Büro, keinen festen Arbeitsort, noch nicht einmal einen | |
| beständigen Arbeitgeber. Lucas, der sich nur mit Vornamen vorstellen | |
| möchte, ist Mikrojobber. Er arbeitet dort, wo er gebraucht wird. Gerade | |
| steht der 24-Jährige vor der Mercedes-Benz-Arena, auf dem | |
| Mercedes-Benz-Platz. Hier hat er schon oft gejobbt – seine App spuckt ihm | |
| immer wieder Angebote rund um den Platz aus, der eigentlich ein neues | |
| Zentrum Berlins sein soll, aber eher wie ein wenig einladendes Konstrukt | |
| aus der Science-Fiction-Serie „Black Mirror“ wirkt. | |
| „Ich habe hier schon oft bei Konzerten gearbeitet. Am Bierstand oder im | |
| Merch-Verkauf“, erzählt er. „Oder bei den Eisbären, in der VIP-Lounge. Da | |
| habe ich gekellnert. Das war eigentlich ganz entspannt, weil man nicht | |
| abkassieren musste. Einfach nur Essen rein- und rausbringen.“ | |
| Wenn man Lucas’ tatsächlichen Arbeitsplatz identifizieren wollte, wäre es | |
| wohl sein Smartphone – ein schwarzes Gerät mit Android-Betriebssystem. Er | |
| öffnet seine Jobvermittlungs-App. Zwei aktuelle Jobvorschläge: Jeweils ein | |
| paar Stunden als Kassierer arbeiten. Der veranschlagte Lohn: etwas mehr als | |
| zehn Euro pro Stunde. Lucas schüttelt genervt den Kopf. | |
| „Ich habe einmal einen Kassenjob gemacht, um rauszufinden, wie mir das | |
| gefällt. Ich fand es scheiße. Jetzt kriege ich vom Algorithmus nur noch | |
| Kassenjobs angeboten. Manche Leute erzählen mir, sie kämen beim Kassieren | |
| in einen Flow, würden einfach durchscannen. Bei diesem Flow war ich noch | |
| nie. Ich sitze jedes Mal da und schaue, welches Brötchen ich nun in der | |
| Hand habe. Ist das ein Softkrüstchen oder ein Roggenmischbrötchen? In der | |
| Schlange warten alle und ich sitze da, ratlos.“ | |
| Der Mensch | |
| Lucas trägt dunkle Shorts, graue Sneakers, ein graues Shirt mit | |
| Brusttasche. Er wohnt in einer Dreier-WG in Friedrichshain. Für sein | |
| Zimmer, etwa 16 Quadratmeter groß, bezahlt Lucas 350 Euro warm. Dafür | |
| reicht der Unterhalt seiner Eltern mitsamt dem Kindergeld. Abzüglich der | |
| Kosten für die Krankenkasse bleiben Lucas aber nur knapp 200 Euro übrig, um | |
| einen Monat lang über die Runden zu kommen – zu wenig ohne Mikrojobbing. | |
| Eigentlich ist Lucas Lehramtsstudent an der Uni in Potsdam. Zu den | |
| Vorlesungen pendelt er nach Brandenburg. Er möchte Lehrer werden, weiß aber | |
| noch nicht, ob in Berlin oder in Brandenburg, wo die Verbeamtung lockt. | |
| Grundsätzlich findet Lucas dieses Konzept nicht gut, „aber wenn ich die | |
| Chance habe, so ein Privileg zu genießen, denke ich natürlich drüber nach.“ | |
| Lucas ist Urberliner, seine Heimatstadt will er definitiv nicht verlassen – | |
| auch wenn er in Brandenburg arbeiten würde. | |
| Wie alles begann | |
| Lucas weiß nicht mehr genau, wann er mit dem Mikrojobben angefangen hat. | |
| „Ein Freund von mir arbeitete öfter in dem Bereich und erzählte mir davon. | |
| Er meinte, es sei ganz flexibel, einfache Arbeit. Keine coolen Jobs, aber | |
| leicht verdientes Geld.“ Lucas fand das interessant, hatte ohnehin | |
| Geldprobleme. „Ich dachte mir: Das klingt ganz gut, ich kann es mir ja mal | |
| anschauen. Zuerst musste ich in die Offices der App-Betreiber. Dort bekam | |
| ich eine Einweisung und ein paar Materialien. Briefumschläge zum Beispiel, | |
| schon vorfrankiert.“ | |
| Zu jedem Job, den Lucas annimmt, bekommt er von den Jobvermittlern einen | |
| eigenen Arbeitsvertrag per Mail zugesandt. Den muss er unterschreiben, am | |
| Ende des Monats dann alle gesammelten Verträge gebündelt zurückschicken. | |
| Direkt nach seinen Arbeitseinsätzen erhält er nur die Hälfte des Lohns. | |
| Die andere Hälfte wird ausgezahlt, wenn die unterschriebenen Verträge bei | |
| den Vermittlern ankommen. „Das ist immer ein bisschen nervig, weil man | |
| schnell vergisst, dass eine Hälfte noch fehlt. Erst letzten Monat habe ich | |
| verpeilt, die Verträge zurückzusenden. Dann fehlt Geld auf meinem Konto, | |
| das ich bräuchte.“ | |
| Die Arbeitszeit | |
| Lucas’ Job hat einen großen Vorteil: die Flexibilität. Er muss keine | |
| Schichten übernehmen, arbeitet nur dann, wenn er es zeitlich in seinen | |
| Alltag einbauen kann. Das macht das Mikrojobbing attraktiv. „Im | |
| Durchschnitt würde ich sagen, ich arbeite mindestens einen Tag die Woche, | |
| im Schnitt etwa 10 Stunden. Dann komme ich am Ende auf 450 Euro im Monat. | |
| Aktuell funktioniert das. Ich bekomme ja Unterhalt von meinen Eltern und | |
| Kindergeld. Damit ist es aber leider bald vorbei, ich werde 25. Dann wird | |
| kein Kindergeld mehr ausgezahlt.“ | |
| Mitte August hat Lucas Geburtstag. Danach fehlt ihm jeden Monat eine | |
| beträchtliche Summe, die er irgendwie ausgleichen muss. „Ab Oktober wartet | |
| auch noch ein Praxissemester auf mich, da habe ich ein bisschen Schiss vor. | |
| Unter der Woche bin ich dann in Vollzeit beschäftigt, zum Geld verdienen | |
| bleibt nur die Nacht. Klar, auch dafür gibt es Jobangebote, aber dann bin | |
| ich ja irgendwann total fertig.“ | |
| Zumindest Überstunden kommen in Lucas' Job selten vor. „Ich habe praktisch | |
| noch nie länger gearbeitet, als in der App vorher angegeben war. Außer bei | |
| Circ, für die ich E-Roller einsammeln musste.“ Circ ist ein Anbieter | |
| elektrischer Leih-Scooter in Berlin. Sind ihre Akkus leer, müssen die | |
| Roller eingesammelt und aufgeladen werden. Circ setzt auf Mikrojobber, | |
| stattet diese mit Miet-Transportern und einem Dienst-Smartphone aus. Lucas | |
| bekam eine Vorgabe, wie viele Roller einzusammeln seien. | |
| Es stresste ihn, immer wieder im Halteverbot, auf Radwegen parken zu | |
| müssen. Dauernd beschwerten sich Menschen bei ihm. „Dann standen wir noch | |
| im Stau und haben länger gebraucht. Das wurde uns nicht bezahlt. | |
| Normalerweise ist die Arbeitszeit aber immer beschränkt. Manchmal steht in | |
| der Jobbeschreibung: Achtung, könnte auch länger dauern. Die Überstunden | |
| kann man dann aber in die App eintragen und bekommt sie bezahlt.“ | |
| Die Bezahlung | |
| Lucas verdient oft mehr als die Festangestellten um ihn herum. „In vielen | |
| Jobbeschreibungen steht, dass ich mit den Angestellten nicht über mein | |
| Gehalt sprechen soll. Da halte ich mich aber nicht dran. Wenn mich jemand | |
| fragt, sage ich auch, was ich verdiene. Alles andere wäre unfair.“ Lucas | |
| bekommt in der Regel zwischen 10,50 Euro und 11,50 Euro pro Stunde – etwas | |
| mehr als den Mindestlohn also. Festangestellte Mitarbeiter in den | |
| Arbeitsbereichen, die Lucas ausübt, dürften allesamt auf Mindestlohnbasis | |
| beschäftigt sein. | |
| „Mein erstes Mal arbeiten bei Circ war zum Rollerbekleben“, erzählt Lucas | |
| nochmal vom aktuell florierenden E-Roller-Geschäft. „In einer riesigen | |
| Fabrikhalle musste ich Circ-Aufkleber auf die neuen Roller pappen. Das | |
| dauerte etwa eine Stunde, danach habe ich Netzteile ausgepackt, ein richtig | |
| stumpfer Job. Schachtel auf, Netzteil raus, Schachtel zusammenfalten. | |
| Nächstes Netzteil. Fünf Stunden lang. Richtig bescheuert, da war ich echt | |
| froh, als es vorbei war. In der Jobbeschreibung stand nur: Roller testen | |
| und bekleben.“ | |
| Das Gewissen | |
| „Ich arbeite für irgendwelche Subfirmen, die noch mal Subfirmen | |
| beauftragen, die dann Mikrojobber nutzen. Diese ganzen Sub-Sub-Strukturen | |
| finde ich eigentlich furchtbar.“ Die Arbeit, die Lucas übernimmt, ist | |
| ausgelagert. Große Unternehmen beschäftigen kleinere Unternehmen, die | |
| selbstständig Dienstleistungen übernehmen. Leidtragender ist der | |
| Arbeitnehmer am unteren Ende der Auslagerungskette. | |
| „Wenn ich als Kellner arbeite, habe ich schon häufiger beobachtet, dass in | |
| der Küche die Spüler die Ärmsten der Armen sind. Ich bekomme dann mit, dass | |
| dort viele dunkelhäutige Menschen arbeiten – und Spülen ist absolute | |
| Scheißarbeit. Da fühle ich mich schlecht und denke mir: Nehme ich gerade | |
| jemandem den Job weg, der ohne mich in einer besseren Position arbeiten | |
| könnte? Bei den Spülern sind wahrscheinlich 70 Prozent dunkelhäutig, und | |
| bei den Kellnern ungefähr 2 Prozent. Das ist ziemlich eklig.“ | |
| Die Wertschätzung | |
| Lucas wird nach Beendigung eines Jobs von den jeweiligen Vorgesetzten in | |
| der App bewertet. Es gibt ein Punktesystem, von eins bis fünf. „Mir ist | |
| mein Ranking meistens egal. Ich will meine Arbeit gut machen, unabhängig | |
| von irgendwelchen Bewertungen. Wenn sie mich in der Mercedes-Benz-Arena | |
| schlecht ranken, gehe ich halt woanders arbeiten. Manchmal fällt mir bei | |
| anderen aber auf, dass sie unter der Punktevergabe leiden, dann tut es mir | |
| schon leid. Für die Subfirmen hängen die Bewertungen wahrscheinlich auch | |
| mit Effizienz zusammen. Wenn es mit den Einsatzkräften nicht gut läuft, | |
| können Arbeitgeber das spiegeln, dann kommen beim nächsten Mal andere.“ | |
| Die Perspektive | |
| „Ich will diese Arbeit echt nicht länger machen, als ich studiere. Die | |
| wenigsten Jobs machen mir Spaß. Manches ist okay, aber ich mache es | |
| einfach, weil ich ohne das Geld nicht klarkäme.“ | |
| Grundsätzlich findet Lucas die Existenz von solchen Mikrojobs nicht gut. | |
| „Ich bin dafür, dass der Mensch vor der Wirtschaft kommt. Man sollte davon | |
| leben können, was man macht. Den ganzen Tag lang zu arbeiten und davon dann | |
| nicht leben zu können, ist mies. Und noch dazu ist die Arbeit mental | |
| belastend: Jeden Tag eine neue Umgebung, neue Kollegen, ein neuer Chef. Man | |
| kommt nie an, ist abends einfach wieder weg.“ | |
| Und zum Schluss: Was kaufen Sie sich für unverhoffte 100 Euro? | |
| Lucas überlegt. „Aktuell würde ich mit 100 Euro wahrscheinlich mein Dispo | |
| ausgleichen“, sagt er. Jeder Monat sei für ihn ein Kampf um die schwarze | |
| Null. „Oder ich würde ein Fahrrad kaufen. Meins wurde geklaut, das nervt | |
| echt richtig.“ Es sei ein altes und klappriges Rad gewesen. Eigentlich kaum | |
| noch zu gebrauchen – und trotzdem wurde es geklaut. Mikrojobber müssen aber | |
| flexibel sein – ohne Fahrrad ist das schwieriger. | |
| 7 Aug 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Lukas Waschbüsch | |
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