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# taz.de -- Linker Widerstand in Großbritannien: Milchige Mollys
> Die Briten haben ein neues linkes, cremiges Symbol des Widerstands: den
> geworfenen Milchshake. Ist das noch Protest oder schon Gewalt?
Bild: Macht eiskalte Flecken
Lange galt der Molotow-Cocktail als die revolutionäre Waffe der Wahl, die
Brit*innen waren allerdings nie so militant wie ihre Mitstreiter*innen auf
dem Kontinent. Nun etabliert sich, notwendig geworden durch EU-Wahlkampf,
Brexit-Chaos und gesellschaftlichen Rechtsruck, ein neues politisches
Projektil und cremiges Symbol des Widerstands im Vereinigten Königreich:
der Milchshake.
Landesweit greifen Antifaschist*innen nach einem milcheisgefüllten Becher,
um ihren Protest gegen rechte, islamophobe Wahlkandidaten sichtbar zu
machen. Faule Tomaten sind so was von gestern. Aber wie konnte es so weit
kommen?
Alles beginnt mit dem Strawberry-Milkshake einer McDonald’s-Filiale nahe
Manchester. Es ist der 2. Mai, der EU-Wahlkampf, mit dem keine*r gerechnet
hat und den nur wenige überhaupt wollen, hat angefangen. Tommy Robinson,
der islamophobe Gründer der English-Defence-League, Möchtegern-Reklameheld
der rechten Szene und nun Wahlkandidat, wird ungewollt zur Leinwand [1][für
eiskalten pinke Flecken]. Als er auf einer Einkaufsmeile für Selfies mit
rechten Fans posiert, trifft ihn der Milkshake.
Die Täter*innen bleiben unerkannt, Robinson ist sich aber sicher, wer’s
war. Muslime steckten dahinter, sagt er seinen Fans. Nur einen Tag später
[2][kassiert Robinson seinen zweiten Milchshake] in der Stadt Warrington,
als er da einen Mann zutextet. Der kippt ihm seinen Milchshake ins Gesicht.
Die Auseinandersetzung wird gefilmt und der Videoclip wird prompt viral.
Schon hat die Antifa einen neuen Helden, die rechte Szene einen neuen
Bösewicht.
## Die Milchshake-Hitlist
Aber Robinson ist kein Einzelfall in Sachen Milchshakes. Der umstrittene
Kandidat der immer rechtsextremeren UK-Independence-Party (Ukip) Carl
Benjamin, auch als antifeministischer YouTuber unter dem Pseudonym „Sargon
of Akkad“ bekannt, hält momentan den Rekord mit vier Milchshakes, die auf
ihn geworfen wurden.
Benjamin ist eine besonders kontroverse Figur, nicht erst seit er in einem
YouTube-Video darüber spekuliert hat, ob er eine Labour-Abgeordnete
vergewaltigen würde. Während die Polizei gegen ihn ermittelt, werden
Milchshake-Rebellen aktiv. Und das hatte Folgen. Ein Wahlkampfauftritt
Benjamins im Dom von Exeter wurde abgesagt, mit der Begründung, Benjamin
könnte die „öffentliche Ordnung“ gefährden.
Es bleibt allerdings unklar, ob das daran liegt, dass Benjamin Rape-Culture
verharmlost und normalisiert oder ob Milchshakes in der Kirche nicht
willkommen sind. Die Dom-Verwaltung berief sich jedenfalls auf „eine Reihe
von Vorfällen in den vergangenen Wochen“.
Auch Ex-Ukip-Chef und Gründer der neuen Brexit-Partei Nigel Farage scheint
von der Milcheiswelle beunruhigt zu sein. Vor einem Auftritt Farages Mitte
Mai in Edinburgh jedenfalls untersagte die Polizei einer dortigen
McDonald’s-Filiale den Verkauf von Milchshakes.
Konkurrent Burger King, spätkapitalistisch gewitzt, kündigte umgehend auf
Twitter an: „Liebe Schotten, wir verkaufen das ganze Wochenende
Milchshakes. Viel Spaß!“ – [3][ein Tweet, der wiederum von einigen Kunden]
kritisiert wurde. Burger King sah sich zu einer Stellungnahme verpflichtet:
Man befürworte weder Gewalt noch die Verschwendung von Milkshakes. Zu spät,
die Brexiteers riefen längst zum Boykott auf.
Farage allerdings übersteht seinen Edinburgh-Besuch unbesahnt. Fürs Erste
jedenfalls, denn nur drei Tage später, in Newcastle, tritt auch er [4][dem
Club der Milchshake-Opfer] bei. Und dieses Mal kommt das fliegende Getränk
weder von McDonald’s noch von Burger King. Kurz bevor er in Handschellen
abgeführt wird, erklärt der Täter gegenüber der Presse: Es habe sich um
einen [5][Salted Caramel and Banana Milkshake] von der US-Kette „Five Guys“
gehandelt.
Als Farages Wahlkampfmobil, Eigenbezeichnung „Battle Bus“, zwei Tage später
in Rochester ankommt, wird der Brexit-Partei-Chef von einem Anhänger vor
Ort gewarnt: die Lage sei unsicher, Vermummte, ausgerüstet mit Milchshakes,
seien in der Gegend gesichtet worden. Farage verlässt seinen „Battle Bus“
vorsorglich nicht.
## Milchige Molotows
Die zahlreichen Videos von „Milkshakings“, die im Netz kursieren,
polarisieren fast genauso wie der Brexit selbst: die einen jubeln, die
anderen ätzen – und damit haben die milchigen Molotows gleich eine
gesellschaftliche Debatte über die Grenzen des Protestes ausgelöst. Ist das
eine legitime Reaktion auf eine gefährliche Ideologie, die von
rechtsextremen, teils gewaltbereiten Menschen mitverbreitet wird – oder
schlicht kriminelle Gewalt, die in einer Demokratie nichts zu suchen hat?
Positionen dazu kommen aus den überraschendsten Ecken. Dan Kaszeta, ein
ehemaliger Secret Service Agent unter dem früheren US-Präsidenten George W.
Bush, der seinen alten Chef auch mal vor dem einen oder anderen Frappuccino
schützen musste, [6][schaltete sich über Twitter ein]. Kaszeta sieht im
Milkshaking keine politische Gewalttat, sondern eine Protestform. Sein
Ratschlag für Farage: „Steh deinen Mann und bring Wechselkleider mit“.
Das Verletzungspotenzial eines Milchshakes ist in der Tat äußerst gering,
es sei denn, man hat eine Laktoseintoleranz. Kritik an den eingesetzten
Mitteln ist dennoch berechtigt: Warum werden nur Milchshakes von großen
US-Konzernen geworfen? In Großbritannien leiden lokale Geschäfte immer mehr
an steigenden Mieten und wachsender Konkurrenz von großen Ketten.
Und geht das nicht auch vegan? Schließlich wäre ein geworfener
Bio-Soja-Shake von der optischen Wirkung her ebenso gut wie ein Kuhshake,
schont aber dafür die Natur und schützt das Klima. Linker Aktivismus muss
konsequent sein.
## Von der Straße vertrieben
Klar ist: der Voyeurismus-Appeal ist groß und die Videos werden massenhaft
geklickt und geteilt. Aber Milkshakings sind mehr als nur ein reines
Online-Spektakel: Der Milchshake wird zum neuen Symbol der Antifa. Er trägt
zu einem neuen aktiven antifaschistischen Selbstbewusstsein im Land bei.
Gleichzeitig haben rechte Kandidaten nun Angst, ihre menschenverachtende
Ideologie auf der Straße zu verbreiten. Einige Auftritte werden von Seiten
der Locations abgesagt, andere fallen aus Sicherheitsgründen aus – und zwar
nicht nur in den kosmopolitischen Großstädten, sondern auch in den
entindustrialisierten Brexit-Hochburgen im Norden Englands.
Wo Kelis’ Milkshakes berühmterweise die Jungs in den Hof locken, vertreibt
hier ein Spektrum bunter Eisgetränke britische Faschisten vom Hof – sprich:
aus dem öffentlichen Raum. Ob Banane oder Vanille: In einem Land, in dem
die Rechten auf dem Vormarsch sind und Hasskriminalität rasant ansteigt,
sind fliegende Milchshakes leckere Sahnehäubchen der Toleranz. Sie
entlarven Betroffene auf offener Straße als die Hassprediger und Rassisten,
die sie sind, mit einem milchigen Platsch.
3 Jun 2019
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=DCISYk87qEo
[2] https://www.youtube.com/watch?time_continue=20&v=3W4e4bUB4iU
[3] https://twitter.com/BurgerKingUK/status/1129748114129215491
[4] https://www.youtube.com/watch?v=Hu9NVXtm6io
[5] https://www.youtube.com/watch?v=XU8SheQIZFw
[6] https://twitter.com/DanKaszeta/status/1130823332780216320
## AUTOREN
Nicholas Potter
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