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# taz.de -- Kolumne Sternenflimmern: Europa für alle oder keinen
> Europäische Freiheit hat ihre Grenzen (vor allem an Grenzen). Das wissen
> alle, die nicht mit dem richtigen Pass geboren wurden, sehr genau.
Bild: Für wen gilt die europäische Freiheit?
„Europa ist wie ein Puppenhaus“ ist ein Satz, den ich als Jugendliche in
mein Tagebuch schrieb nach einem Besuch bei meiner Familie in Indien. Ich
hatte die Sommerferien im Elternhaus meines Vaters verbracht, einem kleinen
Haus an einem Fluss, das man früher nur erreichen konnte, indem man über
einen Baumstamm balancierte, der über einem Flussausläufer voller Seerosen
lag. Ich habe mir die Zeit mit einer selbst gebastelten Angel vertrieben.
Es war wie ein anderes Leben: kein Strom, kein Radio, kein Supermarkt, kein
Plastik, keine weiche Matratze zum Schlafen. Nur Schwüle, das laute Zirpen
der Insekten, Palmen und ein Plumpsklo außerhalb des Hauses. Es war das
Land, wo der Pfeffer wächst. Ich konnte sie annehmen, diese Realität,
genauso wie meine Realität in Deutschland. Nur zusammenbringen konnte ich
sie nie.
Deutschland war der Ort, wo man als Teenager unbesorgt von schöner Kleidung
träumen konnte, Indien der Ort, an dem sie unter miserablen Bedingungen
gemacht wurde. Das wusste ich damals zwar nicht so genau, aber ahnte es.
Europa war mein Ticket zur Unbeschwertheit. Das Privileg, sich Sorgen
machen zu dürfen über Dinge, die nicht existenziell sind. Der Ort, an dem
ein Mensch geboren wird und in welche Familie, entscheidet in großem Maße
darüber, welche Möglichkeiten er hat. Das ist für mich nicht abstrakt,
[1][sondern Teil meiner Identität].
Ich weiß nicht, wie oft ich in meinem Leben das Gedankenspiel durchgegangen
bin, wer ich heute wäre, wenn meine Eltern ihre Heimat nicht verlassen
hätten, um sich eine bessere Existenz zu sichern. Ich hätte vielleicht auch
dort Journalistin werden können. Aber wenn ich mir die Lebensläufe der
Frauen in meiner Familie angucke, nun, es wäre zumindest sehr viel schwerer
gewesen.
In Europa aufzuwachsen bedeutete für mich, in vielem eine größere Auswahl
zu haben: wie ich mich als Frau bewegen kann, wen ich lieben kann, was ich
in diesem Leben erreichen kann. Mehr Freiheit, ja. Aber meine europäische
Existenz war für mich auch immer mit Schuld verbunden. Schuld, die ich
gegenüber anderen Menschen empfand, die sich auch nichts anderes wünschten,
als einer harten Realität zu entkommen. Warum ich und nicht sie?
Ich will mich nicht rechtfertigen, dass ich hier bin. Jeder Mensch sollte
das Recht haben, sich frei zu bewegen. Aber die europäische Freiheit hat
ihre Grenzen (vor allem an Grenzen). Das wissen alle, die nicht mit dem
richtigen Pass geboren wurden, sehr genau. Denn diese Freiheit gilt nur für
die Puppen im Puppenhaus.
25 May 2019
## LINKS
[1] /Waehlen-als-Deutsch-Ghanaerin/!5593685
## AUTOREN
Jasmin Kalarickal
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Schwerpunkt Europawahl
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