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# taz.de -- Nanni Balestrini, ein Nachruf: Der Literat der Autonomia
> Zum Tod des großen italienischen Schriftstellers, Gentlemans und
> politischen Avantgardisten Nanni Balestrini.
Bild: Setzte in den 1960er Jahren auf den militanten Klassenkampf: Nanni Belast…
Der Autor Nanni Balestrini war ein eleganter, höflicher und gebildeter
Mensch, aber auch einer mit Haltung und Grundsätzen. Und zu diesen zählte,
dass er die Schönheit und Radikalität des Individuums respektierte, sich
aber dennoch für kollektive Vorgänge und Klassenlagen interessierte. In
Italien gehörte er in den 1960er Jahren zur Gruppe der literarischen
Neoavantgarde, zu der damals auch ein Umberto Eco zählte. [1][Balestrini]
arbeitete bis 1972 als Redakteur für den Verlag Giangiacomo Feltrinellis.
Dem Tod des mit Che Guevara befreundeten reichen Unternehmers widmete er
später sein Buch „Der Verleger“.
1935 in Mailand geboren, scheint Balestrinis Biografie beispielhaft für die
Nachkriegsavantgarden Italiens. Das Land war nach 1945 ein Hauptschauplatz
im Kalten Krieg. Der faschistische Polizei- und Verwaltungsapparat konnte
so die frisch etablierte italienische Demokratie dominieren, die ehemals
starke kommunistische Widerstands- und Partisanenbewegung stand im Abseits.
Nanni Balestrini gehörte zu den intellektuellen Köpfen des sich
formierenden Protests der 1960er Jahre. Mit Antonio Negri war er 1969 an
der Gründung der Gruppe „Potere operaio“ (dt.: „Arbeitermacht“) beteil…
Ähnlich wie viele andere aus der radikalisierten 68er-Bewegung in
Westeuropa saß er dem Glauben auf, die militante Klassenkampfbewegung in
den Fabriken könne eine bessere Gesellschaft ermöglichen. Sein
dokumentarischer Roman „Wir wollen alles“ (Trikont, 1972) gilt als Manifest
und Dokument dieser Zeit, als „Potere operaio“ bei Fiat in Turin (wie auch
der „Revolutionäre Kampf“ um Joschka Fischer bei Opel in Rüsselsheim) die
Arbeiter an den Fließbändern mobilisieren wollte.
Aber diese wollten mehrheitlich keinen Regime Change und lieber weiter
Autos bauen, auch wenn ein Wechsel für die Klimaentwicklung schon damals
wesentlich besser gewesen wäre. Staatliche Repression auf der einen,
Zugeständnisse und Angebote auf der anderen Seite taten ihr Übriges, um die
Fabrikkämpfe allmählich zu befrieden. Die Transformation der alten in eine
neue Arbeiterbewegung scheiterte.
In „Die Unsichtbaren“, seinem vielleicht wichtigsten Werk, erzählt
Balestrini dann vom Aufbruch der Autonomia in den 1970ern, der Verlagerung
der Kämpfe in den gesellschaftlichen Bereich. Doch auch hier führte die
Eskalation zu einer fast schon katastrophisch anmutenden Niederlage. Nach
der Auflösung von „Potere operaio“ 1972 hatte die Ablehnung
kapitalistischer Fabrik- und Lohnarbeit sowie die Entwicklung neuer,
„antiautoritärer“ Lebensformen (etwa über Hausbesetzungen) im Vordergrund
gestanden.
## „Die Unsichtbaren“
In manchen Quartieren weigerten sich die Bewohner*innen kollektiv, noch
Mieten oder Strom zu bezahlen. Die Autonomia wollte durch die große
Verweigerung dem kapitalistischen Regime die Fähigkeit zur Reproduktion
entziehen. Klassenübergreifend sollten glücklichere Formen des
Zusammenlebens entstehen. „Die Unsichtbaren“ beschreibt in packender
doku-fiktionaler Prosa diesen Prozess – und wie die Hoffnungen einer ganzen
Generation schließlich auf der Strecke blieben.
Denn so stark wie die Autonomia auch damals schien, die
Eskalationsstrategie gegen den Staat entglitt völlig und ließ die Bewegung
gegen die Wand laufen. Tausende wurden inhaftiert, viele flohen vor teils
abstrusen Anschuldigungen ins Exil. Darunter auch so prominente
Intellektuelle wie Nanni Balestrini und Antonio Negri. Beschuldigt von der
italienischen Justiz, der Guerilla anzugehören, setzten sie sich 1979 nach
Frankreich ab, Balestrini lebte zeitweise auch in der Bundesrepublik.
Nanni Balestrini, der sich auch als Lyriker und bildender Künstler
verstand, schuf weiterhin große doku-fiktionale Prosawerke. Sein Interesse
für extreme Lagen am Rande der Gesellschaft war ungebrochen, zumal sich die
Extreme vom Rande häufig mitten im Zentrum wiederfanden.
## Die Hooligans vom AC Milan
1995 veröffentlichte der ID Verlag die deutsche Fassung seines Romans „I
Furiosi“. Hier erzählt Balestrini in „poetischer Prosa“ (La Repubblica) …
den Exzessen der rot-schwarzen Brigaden des AC Milan. Sebastian Nübling
brachte in einer aufsehenerregenden Inszenierung das „Hooligan-Drama“ 2001
im Staatstheater Stuttgart auf die Bühne.
In seiner generösen Art, als Autor bescheiden hinter seine Protagonisten
zurücktretend, verfasste er auch „Sandokan. Eine Camorra-Geschichte“
(Assoziation A, 2006). Es ist die vielleicht knappste und zugleich
umfassendste, in jedem Fall vergnüglichste Darstellung zur Funktionsweise
eines Camorra-Clans in Kampanien.
Wie verschiedene italienische Medien nun berichten, verstarb Nanni
Balestrini 83-jährig nach kurzer Krankheit gestern, am 20. Mai, im
Krankenhaus San Giovanni Addolorata in Rom.
20 May 2019
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## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
## TAGS
Nanni Balestrini
Antonio Negri
Italien
Schriftsteller
Soziale Bewegungen
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