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# taz.de -- Zum 80. Geburtstag Nanni Balestrinis: Sie wollten alles
> Neue Kampfformen und literarische Montage: Zum 80. Geburtstag des großen
> italienischen Schriftstellers Nanni Balestrini.
Bild: Nanni Balestrini.
Der Schriftsteller Umberto Eco gehörte in den 1960er Jahren ebenso zur
Strömung der Neoavantgarde in Italien wie Nanni Balestrini. Auch wenn sie
sich unterschiedlich entwickelten, waren sie in den 1960er Jahren zunächst
in der „Gruppe 63“ vereint. Eco wurde später zu einem berühmten,
international überaus erfolgreichen Autor (“Im Namen der Rose“), Balestrini
zum dokufiktionalen Erzähler der Neuen Linken Italiens.
Zusammen mit Toni Negri und anderen musste er sich nach 1979 vor absurden
Anklagen der italienischen Justiz ins französische Exil flüchten. Auf
Skiern überquerte der autonome Literat heimlich die Alpen, woran ein jetzt
erschienener Sammelband zu Balestrinis 80. Geburtstag am 2. Juli erinnert
(“Nanni Balestrini. Landschaften des Wortes“).
In den 1960er Jahren begann sich die revolutionäre Jugend in Italien von
den Dogmen der traditionellen Arbeiterbewegung zu lösen. Sie stellte nicht
nur das postfaschistische Regime und dessen Kontinuität in Frage, ähnlich
wie in anderen Ländern des Westens radikalisierte man sich gegen das
vorherrschende Arbeits-, Konsum- und Lebensregime. In Italien entstanden
große und militante Strömungen, die sich in unterschiedlicher
Interpretation als autonome Bewegung begriffen.
Dem neuen „Massenarbeiter“, dem oft aus dem ländlichen Süden in den
industrialisierten Norden gewanderten Binnenmigranten, schuf Balestrini mit
seiner dokufiktionalen Prosa in „Wir wollen alles“ (1971) ein literarisches
Denkmal. Von heute aus betrachtet, ist dieses frühe Werk Balestrinis nicht
leicht zu lesen. Die wilden, auch gegen die Gewerkschaft gerichteten
Massenstreiks bei Fiat, die „eruptive Gewalt“, von der der
Literaturwissenschaftler Jost Müller in einem Beitrag zu Balestrinis
Achtzigsten spricht, wirken wie aus einer entrückten Epoche.
## Kollektive Persönlichkeit
Müller zitiert aus einem Interview die damalige Absicht des Autors: „Es
ging darum, eine kollektive Persönlichkeit zu zeichnen, in der sich die
Hauptfigur des großen Kampfzyklus jener Jahre verkörperte, die mit neuen
Charakteristika, neuen Zielen und neuen Kampfformen die historische Bühne
betreten hatte.“ Schon wesentlich stärker den heutigen Auseinandersetzungen
zugewandt, zeigt sich der 1987 veröffentlichte Roman Balestrinis, „Die
Unsichtbaren“. Er erzählt ohne Verklärung, jedoch literarisch sehr intensiv
von Größe und Scheitern der autonomen Massenbewegung Italiens, den
„1977ern“, die den Staat ernsthaft herausgefordert hatten.
Literarisch betrachtet, ist Balestrinis Methode die absolute
Entgegensetzung zur gegenwärtig grassierenden Ich- und Empfindungsprosa.
Umberto Eco charakterisierte die Arbeit seines einstigen Weggefährten so:
„Balestrini steht auch heute noch auf der Seite des Protagonisten von ,Wir
wollen alles‘. Doch skeptisch gegenüber dem einen Material und zustimmend
gegenüber dem anderen, ermöglicht er uns in beiden Fällen, in verschiedene
Welten einzudringen, indem er nebeneinanderstellt, was diese Welten
‚sagen‘, ohne persönliche Meinungen darüberzulegen. Das heißt, es gibt z…
eine Meinung, aber heruntergebrochen auf die Art und Weise, wie das
Material montiert wird.“
Balestrini interessiert sich für Menschen und Lebenszusammenhänge, die
nicht mit den seinen identisch sind, für Extreme, die oft nur die
Soziologie (Kriminologie) oder heute die Popkultur aufgreifen. In dieser
Hinsicht sind zwei seiner späteren Werke unbedingt hervorzuheben. „I
Furiosi“ (“Die Wütenden“, 1994), ein Roman in 11 Gesängen über die
Hooligans des AC Milan, von Regisseur Sebastian Nübling 2001 auch für das
Theater inszeniert. Und „Sandokan“ (2004), ein kleines Buch mit einem
gewaltigen Thema.
## Wille zur Veränderung
„Sandokan“ erzählt ohne Punkt und Komma aus der Innenwelt der Camorra. Die
Episoden scheinen ähnlich absurd wie die aus der Soprano-Fernsehserie.
Spannend, authentisch, lehrreich, ein Buch fürs Handgepäck jedes
Italien-Reisenden.
Der nun aufgelegte Sammelband zum 80. Geburtstag würdigt neben weiteren
bedeutsamen Werken (“Der Verleger“, 1989) vor allem das lyrische und
bildnerische Werk des Autors. Balestrinis Gedichtmontagen aus
Zeitungsschnipseln erinnern an die Formexperimente der italienischen
Neoavantgarde. Manche seiner Gedichte wirken von heute aus gesehen aber
ziemlich ideologisch.
So erschließt sich Balestrinis literarische Bedeutung vor allem durch die
Lektüre seiner dokufiktionalen Prosa. Seine komplexen Romanmontagen sind
getrieben von einer Mischung aus Leidenschaft, Analyse und dem Willen zur
Veränderung. Das Sichtbarmachen der Extreme, das oft archaisch wirkende
Verhalten der plebejischen Schichten sind Ausgangspunkt von Interesse und
Erzählung.
In diesem Sinne ist Balestrinis Werk frisch, anregend und jung, oder wie es
Umberto Eco sagt, „weniger eine Verteidigung der Gewalt oder ein Aufruf zum
Kampf als eine Erklärung der Gewalt in all ihren Aspekten, das heißt eine
Theaterinszenierung der gegenüberstehenden Gewalten, bei der die Gewalt der
Institutionen und ihre Sprache die Gewalt gegen die Institutionen erzeugt.“
2 Jul 2015
## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
## TAGS
Soziale Bewegungen
Nanni Balestrini
Berlin Kultur
Zeitung
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