# taz.de -- Alternatives Wohnen: Kraken heißt Besetzen | |
> Tieneke Verstegen wohnt in einem ehemaligen Kino im niederländischen | |
> Venlo. 1.000 Quadratmeter für 250 Euro Miete. Klingt wie im Film, oder? | |
Bild: Für Tieneke Verstegen fühlt es sich an wie ein Auftrag, das alte Kino z… | |
Venlo taz | Sie erinnert sich noch gut an den Tag vor ungefähr zehn Jahren, | |
an dem sie durch die Vleesstraat in Venlo lief, eine unauffällige | |
Einkaufsstraße im braun geklinkerten Zentrum der niederländischen | |
Grenzstadt. Als sie am früheren City-Kino vorbeikam, reparierte ein | |
Bauarbeiter die Eingangstür. Er richte, meinte er, das Gebäude für einen | |
vorübergehenden Bewohner her. Und Tieneke Verstegen, die damals Mitte 50 | |
war, fragte sich: „Wäre das nicht etwas für mich?“ | |
Seither wohnt sie in ihrer „schlafenden Schönheit“. So nennt sie den Ort. | |
Sich selbst nennt Verstegen dagegen „urbane Nomadin“. Seit mehr als 20 | |
Jahren wohnt sie in Häusern oder Räumen, die ohne sie leer stehen würden. | |
Eine leicht geschwungene Treppe führt hoch in den ersten Stock, ins Foyer | |
des alten Kinos. Rechts, in der ehemaligen Garderobe, hängen ihre Kleider. | |
Links geht es in die alte Bar, die nun Verstegens Wohnküche ist. Doch das | |
Kaffeekochen dauert. Zu viel gibt es zu erzählen über ihr Leben, ihre | |
vielen Interessen. | |
Anti-Kraak heißt das Wohnmodell, das Verstegen bevorzugt und das seinen | |
Ursprung im Amsterdam der 80er Jahre hat. Das Besetzen, das Kraken, von | |
leer stehenden Häusern war in den Niederlanden unter bestimmten | |
Voraussetzungen damals legal: Das Recht auf eine Wohnung wog schwerer als | |
das Eigentumsrecht der Immobilienbesitzer. | |
Ein Makler aber kam auf die Idee, den Krakern mit Anti-Kraak, die Grundlage | |
fürs Besetzen zu nehmen. Seither können Immobilienbesitzer Agenturen | |
beauftragen, die vorübergehende Bewohner für leer stehende Gebäude und | |
Wohnungen suchen. | |
## Bewohnen als Auftrag | |
Die Abmachung, die noch heute gebräuchlich ist: Statt Miete bezahlen die | |
neuen Bewohner, die nun so etwas wie die Wächter des Leerstandes sind, nur | |
einen geringen Nutzungsbetrag. Dafür halten sie unliebsame Besetzer fern | |
und die Immobilie in Schuss – Wohnungen, Gewerbeimmobilien oder sogar | |
Landgüter werden so zu vorübergehenden Bleiben. | |
Tieneke Verstegen setzt sich an den langen Tisch in der Bar. Hinter ihr | |
erinnern die dunkelroten Leuchtbuchstaben des City-Schriftzugs daran, dass | |
hier einst Nachtschwärmer und Filmfans ein und aus gingen. Sie empfindet es | |
als Ehre, da zu wohnen. Als Auftrag sogar. Denn die schlafende Schönheit | |
von Venlo ist für sie mehr als eine Wohnung. „Das Kino gehört zum | |
kollektiven Gedächtnis der Stadt.“ Deswegen kommen immer wieder Gäste | |
vorbei, Tieneke erzählt ihnen dann von der wechselvollen Geschichte des | |
Hauses. | |
Die Familie Caubo, eine „Kino-Dynastie“, führte das Kino vier Generationen | |
lang. 1907 öffnete das Lichtspielhaus als eines der ersten in den | |
Niederlanden. 1920 schickte der damalige Besitzer seinen Sohn und dessen | |
Freundin mit einem Flugzeug in die Luft, um Reklameblätter abzuwerfen. Die | |
Maschine stürzte ab, die jungen Menschen starben. Der Vater kam darüber nie | |
hinweg; ein Verwandter übernahm den Betrieb. Es folgte die dunkle Zeit der | |
nationalsozialistischen Besatzung. Als die Alliierten 1944 die Stadt | |
bombardierten, trafen sie statt der strategisch wichtigen Maas-Brücke das | |
Kino. | |
Doch die Familie Caubo ließ es 1951 wieder aufbauen. Dieses Mal folgte | |
keine Katastrophe, aber ein schleichender Abstieg. Anfang 2001 lief | |
schließlich der letzte Film: „Titanic“. Nachdem das Schiff und Leonardo | |
DiCaprio im Eiswasser versunken waren, erlosch der Schriftzug draußen am | |
Gebäude. Über das Ende des damals ältesten Kinos der Niederlande berichtete | |
das Fernsehen zur besten Sendezeit. | |
## Eine vorübergehende Lösung | |
„Man muss sich anpassen an das Gebäude“, sagt Verstegen, die jetzt zum | |
Rundgang einlädt. Sie öffnet die Tür zum großen Saal. Statt auf eine | |
Leinwand schaut man von den Rängen aus auf eine Bühne. Nachdem das Kino | |
geschlossen war, wurde es zum Theater- und Konzertsaal umgebaut – ebenfalls | |
ohne dauerhaften Erfolg. Tieneke Verstegen öffnet den schweren, dunkelroten | |
Vorhang. Dort steht das Gästebett. Die Artistenumkleide hinter der Bühne | |
wiederum ist ihre Dusche. Den Keller eingerechnet wohnt sie auf 1.000 | |
Quadratmetern. Für 250 Euro im Monat. | |
Das Hausbesetzen ist seit 2010 auch in den Niederlanden verboten, | |
Anti-Kraak als Wohnkonzept ist aber geblieben. In begrenztem Umfang haben | |
die Niederländer ihre Idee sogar exportiert. Sie ähnelt dem Konzept der | |
Leipziger Wächterhäuser, deren Nutzer den Zerfall historischer | |
Gründerzeitgebäude verhindern sollen. | |
Niederländische Vermittler bieten ihre Dienste auch im Ausland an. Camelot | |
zum Beispiel, eines der großen Anti-Kraak-Büros, ist in neun Ländern tätig. | |
In Deutschland betreue man eine dreistellige Anzahl von Gebäuden, sagt | |
Karsten Linde von „Camelot Europe“ in Düsseldorf. Darunter sind ehemalige | |
Produktionsstätten, ein Gutshof, eine frühere Polizeiwache für 199 Euro im | |
Monat. „Bei uns steht die Bewachung durch die Hauswächter im Vordergrund“, | |
erklärt Linde. Wer auf eine leer stehende Immobilie aufpasst, darf dort | |
zwar übernachten, muss aber noch einen Erstwohnsitz haben. Anti-Kraak in | |
Deutschland sei immer nur eine vorübergehende Lösung. Gegen die Wohnungsnot | |
helfe das nicht. | |
In den Niederlanden ist das Konzept deshalb auch umstritten. Wer einen | |
solchen Vertrag unterschreibt, unterwirft sich Regeln, die vor allem auf | |
die Interessen der Immobilienbesitzer zugeschnitten sind, lautet die | |
Kritik. Die Rechte der Hauswächter sind im Vergleich zu denen von Mietern | |
beschnitten. Sie müssen innerhalb von vier Wochen ausziehen, wenn sich ein | |
Käufer gefunden hat. Mit Kindern zu wohnen, ist deshalb nicht zulässig. | |
Auch soll es vorkommen, dass Anti-Kraakern baufällige oder | |
schadstoffbelastete Wohnungen angeboten würden. | |
## Die Nachteile | |
In Tino van den Bergs Wohnung im Rotterdamer Stadtteil Crooswijk stapeln | |
sich Umzugskartons. Er wird mit seiner Freundin zusammenziehen und seine | |
Anti-Kraak-Wohnung verlassen. Fünf Jahre hat er hier gewohnt, er kennt die | |
Nachteile des Konzepts: Als die Balkonbrüstung abbrach, erzählt er, | |
schickte das Anti-Kraak-Büro zwar Mitarbeiter vorbei. Die schauten sich den | |
Schlamassel an und verriegelten dann einfach die Tür zum Balkon. „Wir haben | |
uns am Anfang überlegt, was wir alles umbauen und verschönern könnten“, | |
erzählt van den Berg. „Aber dann dachten wir: Das lohnt sich nicht. Wir | |
wussten ja nie, wie schnell wir wieder rausmüssen.“ | |
Crooswijk war früher der ärmste Postleitzahlbezirk der Niederlande. Jetzt | |
greift die Gentrifizierung um sich. Erst verschwanden die Sozial-, jetzt | |
die Anti-Kraak-Wohnungen. Von denen gab es hier früher einige, solange | |
Wohnungsgesellschaften unsicher waren, was sie mit ihren Immobilien | |
anstellen sollten. | |
„Ich hatte eine gute Zeit“, sagt Tino van den Berg. „Man weiß ja, was auf | |
einen zukommt, wenn man den Vertrag unterschreibt.“ Auch sein | |
Gemeinschaftsbüro ist eine Anti-Kraak-Immobilie: Acht Personen teilen sich | |
100 Quadratmeter mitten in der Rotterdamer Innenstadt – und bezahlen | |
gemeinsam 400 Euro. Tino ist Freiberufler, er arbeitet als Fotograf und | |
organisiert Stadtführungen. Mit Anti-Kraak-Preisen wohnt und arbeitet es | |
sich unbeschwerter, meint er. | |
Zurück nach Venlo. Auch Verstegen kennt die Nachteile von Anti-Kraak. „Man | |
muss sorgfältig mit dem Konzept umgehen“, findet sie. Denn die Unsicherheit | |
lauert im Hinterkopf. „Wenn man im Leben ohnehin schon Probleme hat und | |
dann noch anti-kraak wohnt, macht es das bestimmt nicht besser.“ | |
Sie selbst hatte bisher Glück und konnte immer lange bleiben. Zudem ist sie | |
finanziell nicht auf das Konzept angewiesen, sie ist einfach | |
Überzeugungstäterin. „Ich mag die Resträume in der Stadt. Früher waren | |
besetzte Häuser kreative Brutstätten, heute sind es die Anti-Kraak-Orte.“ | |
Für das altehrwürdige Kino gibt es derzeit keine Nutzungspläne. Und wenn es | |
doch einmal anders kommt? „Dann sehe ich mich um nach neuen Abenteuern.“ | |
Vielleicht liegen die auf der anderen Straßenseite? Sie tritt an die großen | |
Fenster der alten Kino-Bar. Im Gebäude gegenüber nutzen die Geschäfte jeden | |
Quadratzentimeter des Erdgeschosses. Weil es keinen gesonderten Zugang mehr | |
zu den oberen Etagen gibt, stehen diese leer. Ein Jammer. | |
17 May 2019 | |
## AUTOREN | |
Fabian Busch | |
## TAGS | |
Alternatives Wohnen | |
Wohnen | |
Kino | |
Niederlande | |
Wirtschaft | |
Florian Schmidt | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neue Wohnformen in Berlin: Was ist das für 1 Co-Life? | |
Ist Coliving die Wohnform der Zukunft? Oder nur eine weitere | |
Investorenidee, um mit Wohnraum möglichst viel Geld zu verdienen? Eine | |
Forschungsreise. | |
Baustadtrat über Enteignung: „Der Leerstand ist ein Skandal“ | |
Mindestens 26 Wohnungen in Riehmers Hofgarten in Kreuzberg stehen leer – | |
aus Spekulationsgründen. Florian Schmidt droht den Eigentümern. | |
Kommentar Gernot Knödler über Wohnen im Kleingarten: Alternatives Leben | |
Wenn der Grundsatz "ein jeder soll nach seiner façon selig werden" auch im | |
übertragenen Sinne gelten soll, dann muss das Wohnen im Kleingarten | |
toleriert werden. |