| # taz.de -- Kandidatenmangel für Kommunalwahlen: Ein Amt, das keiner will | |
| > In Neulewin in Brandenburg fällt die Wahl in diesem Jahr aus. Der | |
| > scheidende Amtsinhaber Horst Wilke (66) hat seine eigene Erklärung für | |
| > die Misere. | |
| Bild: Hat genug: Horst Wilke ist seit 29 Jahren Bürgermeister | |
| Neulewin taz | Tipps für den Neuen hätte Horst Wilke jede Menge. „Wenn du | |
| die Straße sanieren lässt“, sagt der Bürgermeister, „dann müssen die | |
| Bauarbeiten an der Stelle beginnen, die am weitesten von deinem Haus | |
| entfernt liegt.“ Wenn die Bagger beim Dorfschulzen beginnen, denken die | |
| Leute doch, der nutzt seinen Posten aus. Überhaupt die Straße. | |
| „Kommunalpolitik“, Wilke kommt zu Tipp Nummer zwei, „findet immer auf der | |
| Straße statt.“ Natürlich gibt es, wenn der Gemeinderat tagt, auch die | |
| Einwohnerfragestunde. „Aber da kommt kaum jemand.“ Ein Bürgermeister muss | |
| präsent sein. | |
| Horst Wilke, 66, parteiloser Bürgermeister von Neulewin, einer Gemeinde im | |
| Oderbruch mit rund 900 Einwohnern, die verstreut in 13 Dörfern und | |
| Gemeindeteilen leben, würde seine Nachfolgerin oder seinen Nachfolger auch | |
| in die Geheimnisse des Doppik einweihen. „Der doppische Haushalt ist recht | |
| kompliziert“, sagt Wilke. „Doppik“ – die doppelte Buchführung, angeleh… | |
| die Privatwirtschaft – ist für viele Gemeinderäte ein Buch mit sieben | |
| Siegeln. Wilke kann’s lesen. Aber wen interessiert das? Horst Wilke, fast | |
| 29 Jahre lang ehrenamtlicher Bürgermeister, hört auf und keiner will das | |
| Amt haben. Die Bürgermeisterwahl als Teil der [1][Kommunal- und | |
| Europawahlen am 26. Mai] ist in Neulewin abgeblasen. | |
| Neulietzegöricke ist eines der Gemeindedörfer. Hier lebt Wilke seit 1977, | |
| hier begann 1990 sein Aufstieg als Politiker und seitdem das Dorf 2003 nach | |
| Neulewin eingemeindet wurde, ist Wilke der Bürgermeister von Neulewin. | |
| Ehrenamtlich. Das heißt mit vielen nebenberuflichen Arbeitsstunden pro | |
| Woche, mit Entscheidungsbefugnissen über Bebauungspläne und Gemeindefeste | |
| und mit ein paar Hundert Euro Aufwandsentschädigung im Monat. | |
| Neu – so beginnen im Oderbruch die Namen vieler Dörfer. Als Preußenkönig | |
| Friedrich II. Mitte des 18. Jahrhunderts den Lauf der Oder begradigen ließ, | |
| gründeten Kolonisten dort, wo eben noch Wasser floss, Dörfer. Das erste | |
| entstand genau hier, wo Horst Wilke lebt – eine Siedlung mit zwei | |
| parallelen Straßen, dazwischen Kirche, Schule, Gasthof, entlang der Straßen | |
| Fachwerkhäuser, dahinter Gärten. Und weil das Dorf 1753 in der Gemarkung | |
| von Lietzegöricke entstand, hieß es Neulietzegöricke – das älteste | |
| Kolonistendorf im Oderbruch. Der Dorfkern steht unter Denkmalschutz, die | |
| Kirche sowieso, selbst der „Feuchte Willi“, der Gasthof. | |
| ## Ehrenamt vs. Freizeit | |
| Wilke deutet auf die Kolonistenhäuser mit ihren grün gestrichenen Türen, | |
| erklärt, warum das Fachwerk die Spannungen bei so hohem Grundwasser viel | |
| besser ausgleicht als das Steinbauten tun. Wilke kann Vorträge über sein | |
| Dorf halten. Wenn es den Lehrberuf des Dorfbürgermeisters gäbe, er wäre ein | |
| prima Lehrer. Und wer sich das Amt noch nicht zutraut, könnte zunächst | |
| Ortsvorsteher werden, so heißen die Bürgermeister der verstreuten | |
| Ortsteile. Für Neulietzegöricke und Neulewin finden sich auch die nicht. | |
| Ein bisschen ernüchtert klingt Horst Wilke schon, wenn er darüber redet. Da | |
| baut einer nach der Wende die kommunale Selbstverwaltung mit auf, klappert | |
| alle Fördertöpfe ab, ist 29 Jahre lang nach Schichtschluss unterwegs – | |
| Wilke war bis 2015 Eisenbahner – und dann findet sich keiner, der | |
| übernimmt. Warum? Wilke gibt selbst die Antwort: „Ehrenamtliche Arbeit | |
| bedeutet immer Freizeitverlust.“ Der Satz klingt wie ein Axiom. Doch wenn | |
| es schon Zeit kostet, sollte es zumindest hin und wieder Spaß bereiten, | |
| beim Dorffest was reinzubuttern, der Feuerwehr einen Scheck zu überreichen, | |
| für die Jugend den Sportplatz herzurichten. „Das ist das Salz in der | |
| Suppe“, bekennt Wilke, „das macht das Dorfleben schön.“ | |
| In der Logik der Kommunalfinanzen laufen solche Dinge allesamt unter | |
| „freiwillige Aufgaben“ – kein Salz, sondern Schnickschnack, den sich jede | |
| Gemeinde sparen muss, wenn Geld knapp ist. Wilke holt eine Liste hervor: | |
| 2.100 Euro für Feste, 900 Euro für Seniorenbetreuung, 800 Euro für | |
| Spielplätze, 100 Euro für die Bibliothek. Der größte Posten der | |
| freiwilligen Aufgaben sind der Denkmalschutz und die | |
| Dorfgemeinschaftshäuser. Insgesamt machen die freiwilligen Aufgaben aber | |
| weniger als drei Prozent des Gemeindehaushalts von etwa 1,2 Millionen Euro | |
| aus. | |
| Gut 700.000 Euro dieses Haushalts wandern weiter in die Amts- und in die | |
| Kreisverwaltung. Umlage heißt der Zauber, der die Gemeindekasse, kaum dass | |
| sie sich leidlich gefüllt hat, wieder leert. Die Amtsumlage ist der | |
| Beitrag, den die Gemeinde anteilig für die Verwaltung im Amt | |
| Barnim-Oderbruch zahlt, zu dem Neulewin gehört. Dasselbe gilt für den Kreis | |
| Märkisch Oderland, der die Kreisumlage kassiert. | |
| Diese Umlage ärgert Wilke. Der Kreis, der vom Berliner Stadtrand bis an die | |
| polnische Grenze reicht, „hat einen Überschuss von 46 Millionen Euro | |
| angehäuft“, erzählt Wilke, „aber die Dörfer darben“. Es wäre an der Z… | |
| die Umlage zu kürzen. „Aber im Kreistag in Seelow“, schimpft Wilke weiter, | |
| „walten unverständige Mächte.“ Da hätten Kräfte das Sagen, die im Oderb… | |
| so gut wie wirkungslos seien – Parteien. Und in einem Kreis mit siebzig | |
| Kilometern Breite ist nicht mehr die Dorfstraße der Mittelpunkt der | |
| Politik, sondern Potsdam mit den Zentralen der Landesparteien. Die Drähte | |
| dorthin glühten, die Leitungen ins Oderbruch aber blieben stumm. | |
| Es betrifft ja nicht nur Neulewin. Die Hälfte der Gemeinden im Landkreis | |
| stehe finanziell auf dem Schlauch. „Da ist was faul“, sagt Wilke, „da sind | |
| Landes- und Bundespolitik gefragt.“ [2][Am 1. September ist Landtagswahl in | |
| Brandenburg.] „Jetzt haben sie Angst vor der AfD.“ Die SPD, die so lange im | |
| Lande regiert wie Horst Wilke im Oderbruch, und die 2014 noch 32 Prozent | |
| holte, dümpelt nach Umfragen bei zwanzig Prozent. Die AfD sitzt ihr mit 19 | |
| Prozent im Nacken. | |
| Doch die AfD, die sich im Osten gern als neue Volkspartei sieht, hat für | |
| die Gemeindevertretung von Neulewin – diese Wahl findet statt – keinen | |
| Kandidaten gefunden. CDU, SPD, Bündnis90/Die Grünen, FDP und Linkspartei | |
| allerdings auch nicht. Nicht eine Partei hat Vorschläge eingereicht. In den | |
| Städten, mögen sie noch so klein sein, sieht das anders aus. Im nahen | |
| Wriezen mit seinen 7.000 Einwohnern treten für die Grünen zwei Frauen und | |
| zwei Männer für den Stadtrat an. In Jena in Thüringen haben die Grünen | |
| sagenhafte 41 Kandidatinnen und Kandidaten aufgestellt. In Neulewin schickt | |
| stattdessen der Karnevalsverein drei Frauen und zwei Männer ins Rennen. Die | |
| größte Wählergruppe mit acht Personen ist aber die Liste, die Wilke | |
| anführt. Im Gemeinderat will er noch mitmachen. | |
| Aufrecht, mit kantigem Schädel und Gedanken, so geradlinig wie die | |
| Dorfstraße läuft Wilke über das Pflaster. Es hat sich vieles geändert in | |
| den 29 Jahren. In der alten Schule in „Lietze“, wie die Leute das Dorf | |
| nennen, ist das „Kolonistencafé“ eingezogen, im „Feuchten Willi“ gibt … | |
| Livemusik. Im Sommerhalbjahr setzt eine Fähre über die Oder. Wilke macht | |
| auch Europapolitik. Als im vorigen Jahr die polnischen Dörfer an der Fähre | |
| zu einem Fest luden, brachte er tausend Euro mit. Nicht aus dem Topf | |
| „freiwillige Aufgaben“, er hat das Geld eingesammelt. „Eigentlich“, sagt | |
| Horst Wilke, „ist ehrenamtlicher Bürgermeister ein undankbarer Posten.“ | |
| Das hat sich herumgesprochen. Im Landkreis Kusel in Rheinland-Pfalz finden | |
| sich für 30 der 98 Ortsgemeinden keine Bürgermeister. Auch in | |
| Mecklenburg-Vorpommern fallen Bürgermeisterwahlen aus. In zehn | |
| Bundesländern finden am 26. Mai Kommunalwahlen statt. In Bayern erst im | |
| März 2020. Doch die CSU schaltet auf der Suche nach Bürgermeisterkandidaten | |
| schon Zeitungsanzeigen. | |
| In Neulewin wird sich einer finden, glaubt Wahlleiterin Sylvia Borkert. Im | |
| Büro in der Amtsverwaltung in Wriezen organisiert sie die Kommunalwahl im | |
| Amt. Kandidatinnen und Kandidaten haben sich für die sechs | |
| Gemeindevertretungen und die 22 Ortschaftsräte genügend gefunden, sagt | |
| Borkert, darunter viele junge. Nur in Neulewin will keiner Horst Wilke | |
| nachfolgen. Sie kennt einen weiteren Grund. „Nee, so gut wie Horste kann | |
| ich das nicht“, würde sich mancher sagen, glaubt sie. Wilke hat Maßstäbe | |
| gesetzt. | |
| Würde jetzt einer die Hand heben, wäre es zu spät. Die Frist ist | |
| abgelaufen. Doch das Kommunalwahlgesetz baut vor. Bei der konstituierenden | |
| Sitzung des Gemeinderats, erklärt Borkert, werde sie den neuen Rat | |
| auffordern, aus den Reihen der Wahlberechtigten einen Bürgermeister zu | |
| wählen. Sollte das fehlschlagen, wird es nach sechs Monaten wiederholt. | |
| Findet sich immer noch keiner, würde der stellvertretende Bürgermeister das | |
| Amt wahrnehmen. Der muss auf jeden Fall gewählt werden. Eines aber ist | |
| klar, „Horste“ hört auf. | |
| 28 Apr 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Thomas Gerlach | |
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