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# taz.de -- Kolumne Der rote Faden: Bloß keine Kritik
> Wer sich um Regeln schert, hat von Macht nichts verstanden. Macht bekommt
> man nicht, die nimmt man sich. Ob im Netz oder auf dem Landweg.
Bild: Macht nicht immer ausreizen, bis einer weint
Mit der Macht ist es doch komisch. Hie und da gewinnt man mal ein
Fitzelchen davon, aber dann gibt es meistens einen (historisch gesehen
ist’s eigentlich nie eine Frau), der einem zeigt, wer hier der stärkste
Wladi vom Wadi ist. So wie es gerade Putin mit Wolodimir Selenski macht.
Selenski, gerade noch Komiker – oder Stand-upper, wie man jetzt ja sagt –,
ist mit rauschhaften 73 Prozent Präsident der Ukraine geworden. Und dabei
war der Mann nicht mal mit harten Parolen und markiger Agenda angetreten.
Im Gegenteil scheint er auf echten Dialog zu setzen, wollte den Menschen in
den besetzten Gebieten der Ostukraine entgegenkommen, finanziell und
kulturell. Kurz, viele, auch in Europa, hatten zarte Hoffnung auf eine wie
auch immer geartete Versöhnung.
Pech.
Wer sich auf so einen Pussykram einlässt, kann seine Macht schneller
vergessen als Oma Erna ihre Pillen. Und so [1][hat Putin einfach schnell
ein Gesetz unterschrieben], das den Menschen in der besetzten Ostukraine
schnellen und unkomplizierten Zugang zu russischen Pässen ermöglicht. (Ein
super Konzept, ehrlich. Weltweit sollten viel mehr Pässe an Menschen
verteilt werden, an jeden, so viele er will. Denke aber, das ist es nicht,
was Putin vorschwebt.)
Wie, ist gegen die Regeln? Schätzeleins, wer sich um Regeln schert, hat von
Macht nichts verstanden. Macht bekommt man nicht, die nimmt man sich.
Braucht man natürlich eine gewisse Chuzpe für. Die fehlt leider zu vielen.
Mir auch. Facebook weiß das, deshalb empfiehlt es mir neuerdings ständig
ein Buch mit dem schönen Titel „Am Arsch vorbei geht auch ein Weg“.
## Leute nicht leichtfertig als lustig bezeichnen
Das mag sein, ich hab nur so selten Zeit, da hinten mal nachzusehen. Kann
sein, dass da ’ne ganze Autobahn entlangführt. Solange es vorne, vor meinen
Augen, ständig flimmert und blinkt, kann ich mich darum nicht auch noch
kümmern. Es gibt ja noch so viel mehr Machtfragen zu klären, nicht alle
führen über den Landweg. Manche auch über Twitter.
Da läuft zum Beispiel gerade die Frage die Timeline rauf und runter, wer
wen wie nennen darf. „Komikerin“ etwa ist gemein. Das wollen wir nicht mehr
sagen. Ich finde das gut, Leute nicht mehr leichtfertig als lustig zu
bezeichnen. Sind sie ja meistens nicht.
Klar, jeder, auch [2][die Stand-upperin Enissa Amani], soll selbst
bestimmen dürfen, wie man sie nennt. Manches, Despektierliches, verbietet
sich von selbst, das muss man nicht dazu sagen. „Nutte“ etwa, von denen
spricht Amani wiederum ganz gerne. Nutten sind zwar hübsch, und jeder
wünscht sich welche, aber niemand ist eine.
Wenn also Enissa Amani aufsteht und sagt, sie will verdammt noch mal nicht
mehr Komikerin genannt werden, und dann die Journalistin Anja Rützel eine
sehr lustige Kritik über diesen Fernsehaufstand schreibt, in der sie Amani
Komikerin nennt, ist das dann schon quasiputineske Übergriffigkeit? Haha,
der war gut.
Ein bisschen verbale Chuzpe macht noch keinen zum Autokraten. Was Rützel
macht und Amani empört, ist nichts als der normale Dialog zwischen Künstler
und Kritiker. Der findet nicht statt, wenn der eine zur Nutte des anderen
wird und statt Artikeln mit eigenen Gedanken nur noch Flausch und Liebe
schickt. Der Witz ist ja, dass man jemanden, um ihn auf den Arm zu nehmen,
ernster nehmen muss, als um ihn zu loben. Loben kann man auch aus blinder
Begeisterung oder achtloser Gleichgültigkeit heraus. Letzteres wird oft bei
Kindern angewandt: Jaja, schön, wie du da up-gestandet bist. Hauptsache, es
weint nicht.
Apropos nicht weinen, apropos bitte, bloß keine Kritik. In der Doku von
Michel Friedman für Welt/N24 [3][über den neuen, alten Antisemitismus in
Deutschland] fällt der interessante Satz, dass inzwischen
Antisemitismusdebatten nicht mehr über den Inhalt, sondern – verniedlicht –
über den Antisemitismusvorwurf geführt werden. Es geht also immer weniger
um die arschlochhaften Äußerungen, die jemand macht, und immer mehr um das
Mimimi wegen der Kritik daran. „Man muss sich beinahe rechtfertigen, wenn
man jemanden für antisemitische Äußerungen kritisiert“, sagt Friedmans
Interviewpartner Samuel Salzborn.
Das macht natürlich echt Hoffnung: Ein Land voll hyperindividualisierter
Schneeflocken, jede einzelne über jede Kritik erhaben. Tut ja schließlich
weh, so Kritik. Deshalb zum Schluss noch was richtig Schmerzhaftes: In
Friedmans Doku geht es erst lange um den Antisemitismus von rechts, dann
noch kurz um den islamistischen. Der von links (nicht so gewalttätig, dafür
aber halt so gut anschlussfähig, ist ja schließlich nur Israelkritik) –
uups! –, der wurde wohl am Ende vergessen. Und das, obwohl die Zeile von
[4][Rapper Ben Salomo] die ganzen 38 Minuten des Beitrags durchzieht: „Ich
fühl mich eingeklemmt, von radikalen Kräften rechts und links.“
30 Apr 2019
## LINKS
[1] /Kommentar-Russlands-aggressive-Politik/!5587575
[2] /Social-Media-Beef-nach-TV-Kritik/!5586375
[3] /Michel-Friedman-ueber-Menschenhass/!5477285
[4] /IS-Shirt-bei-Toptier-Takeover/!5582518
## AUTOREN
Ariane Lemme
## TAGS
Antisemitismus
Ukraine
Wladimir Putin
Enissa Amani
Kolumne Der rote Faden
Antisemitismus
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