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# taz.de -- Forscher über evangelikale Gemeinden: „Was würde Jesus tun?“
> Evangelikale sind in vielen Fragen politisch indifferent. Ein Gespräch
> über Missionierung, Rollenbilder und die Ablehnung von Homosexualität.
Bild: Religion als Erlebnis: Evangelikale beim Christival in Bremen 2008
taz: Herr Schlamelcher, wenn eine freie Christengemeinde ein soziales
Zentrum samt Kita baut, lässt sich diese karitative Arbeit dann von ihren
religiösen Interessen trennen?
Jens Schlamelcher: Dafür müssen wir kurz zurückgehen: Zu Beginn des 19.
Jahrhunderts bedeutete karitatives Wirken noch „innere Mission“, also mit
gutem Beispiel voranzugehen. Menschen, die eine karitative Gabe empfingen,
sollten wie von selbst zum Glauben zurückfinden. Das nicht-religiöse Wirken
ist also Teil eines religiösen Programms.
Besteht ein Unterschied zwischen den sozialen Angeboten der großen
kirchlichen Träger und einer evangelikalen Einrichtung?
Gehen sie heute mal in ein kirchliches Krankenhaus. Deren Christlichkeit
erschöpft sich darin, dass irgendwo eine Mini-Bibel auf dem Tisch liegt und
an der Wand ein Kreuz hängt. Ansonsten geht es zu wie in jeder anderen
medizinischen Einrichtung. Einen missionarischen Geist finden sie
jedenfalls fast nicht mehr. Hier hat sich eine Funktionslogik durchgesetzt
– das muss aber so nicht sein.
Zum Beispiel bei den Evangelikalen?
Hier kann man davon ausgehen, dass der missionarische Wind, der früher auch
bei den Großkirchen gängig war, noch sehr stark ist. Und ob er sich
abschwächen wird, ist nicht vorhersehbar.
Was bedeutet die Bezeichnung Evangelikale überhaupt?
In den unterschiedliche Gruppen der Bewegung ist es oft umstritten, ob sie
sich überhaupt als evangelikal bezeichnen oder nicht. Denn es handelt sich
um einen verbrannten Kampfbegriff. Einige tendieren mehrheitlich dazu, sich
so zu nennen, andere lehnen das als Fremdzuschreibung ab.
Wie kommt es zu verschiedenen Haltungen innerhalb der Bewegung?
Das evangelikale Spektrum ist sehr divers und entzieht sich einer
Verkirchlichung. Ihr Zentrum ist die Gemeinde oder sogar die Kleingemeinde,
über die es nicht hinausgehen soll. Das ist ihr Grundprinzip. Die großen
Landeskirchen werden hingegen als politische Verwässerung kritisiert.
Gibt es einen gemeinsamen Nenner der Bewegung?
Sie richtet sich gegen die liberale Theologie, die eine
historisch-kritische Bibelanalyse verinnerlicht hat. Evangelikale haben ein
absolutes Vertrauen in die heilige Schrift, an deren Worten nicht
gezweifelt werden darf.
Und wie drückt sich das konkret aus?
In der Konsequenz vor allem als politisch konservative Haltung in Bezug auf
Geschlechterfragen. In einigen Landeskirchen wird inzwischen die Ehe für
alle anerkannt und man kann sich auch zu seiner Homosexualität bekennen.
Für Evangelikale ist das ein absolutes No-Go. Ihr Rollenbild von Mann und
Frau ist an das Verständnis des 19. Jahrhunderts angelehnt, insbesondere
auch hinsichtlich der geschlechtlichen Arbeitsteilung.
Stammt das Geschlechterbild nicht aus der Bibel?
Sie deuten die Kernfamilien des 19. Jahrhunderts auf die heiligen Schriften
zurück. Letztlich sind auch sie dazu gezwungen die Bibel zu interpretieren,
auch wenn sie annehmen, ihre Niederschrift wäre vom Heiligen Geist
inspiriert worden.
Wen zieht dieses Rollenverständnis heute noch an?
Gerade das klassische Geschlechterverständnis ist auch in westlichen
Industriegesellschaften für Männer und Frauen heute wieder attraktiv. Wenn
die Emanzipation lediglich als zusätzliche Belastung wahrgenommen wird,
kehren sich auch Frauen wieder von ihr ab. Und die eheliche Treue des
Mannes wird als ein Gegengewicht zur Erziehungslast alleinerziehender
Mütter wahrgenommen.
Wieso gelingt ausgerechnet einem konservativen Protestantismus eine
Erneuerung der christlichen Tradition?
Die älteren Evangelikalen haben aus der Bibellektüre Schlussfolgerungen
gezogen. Das ist eher etwas Trockenes. Neueren Bewegungen der Evangelikalen
geht es um die Erfahrung des Heiligen Geistes im Ritual: Gott muss im Hier
und Jetzt erspürt werden. Im Prinzip handelt es sich also um eine
Speerspitze der Erlebniskultur.
Was meinen sie damit?
Den Imperativ auf Erfahrung, auf Ereignis, auf emotionaler Ergriffenheit,
den kennen wir auch aus dem Konsumkapitalismus. Nehmen sie das Beispiel
eines Popkonzerts oder eines Fußballspiels. Die Elemente der
charismatischen Theologie sind aber vielleicht noch dramatischer als ein
Popkonzert, weil sie spirituell überhöht sind.
Auf welche Elemente der evangelikalen Lehre stützt sich diese populäre
Tendenz?
Zum Beispiel auf die Zentralität der Person Jesus. Es gibt Bewegungen wie
„Jesus as your buddy“ (Jesus als dein Kumpel), die sich mit Jesus im
Restaurant verabreden. Das ist diese unmittelbare Erfahrbarkeit von Jesus.
Anstelle eines protestantischen Gottes, der sich aus der Welt zurückgezogen
hat, ist hier ein Jesus, der ständig präsent ist. Man stellt sich
beispielsweise vor, dass er neben einem sitzt: Was würde Jesus jetzt an
meiner Stelle tun?
Welche anderen Gruppen spricht das noch an?
Die Figur der Wiedergeburt und der Vergebung erreicht viele Leute in der
Gefängnisseelsorge, aber auch Suchtkranke: „Früher habe ich gesündigt und
jetzt bin ich bekehrt.“ Aber auch marginalisierten Ausländern kann die
Gemeinschaftserfahrung eine Stütze bieten.
Wächst die evangelikale Bewegung weiter an?
Der Evangelikalismus ist im globalen Kontext zwar die am stärksten
wachsende Religion, sowohl in Europa als auch in den USA stagniert sie aber
bereits oder wächst nur noch auf Kosten liberalerer Strömungen.
Wie groß ist die Bewegung in Deutschland?
Schätzungen gehen davon aus, dass zwei Prozent der Bevölkerung zu den
Evangelikalen gehören. Das hört sich klein an. Aber ich würde schätzen,
dass die Gruppe der wirklich kirchentreuen Protestanten, die regelmäßig den
Gottesdienst aufsuchen, genauso groß ist.
Gewinnen oder verlieren evangelikale Gruppen in den deutschen Kirchen an
Einfluss?
Gerade für die Landeskirchen sind die Evangelikalen meiner Erfahrung nach
das große Feindbild. Eines der großen Themenfelder, die die evangelischen
Weltanschauungsbeauftragten bearbeiten, sind die Evangelikalen. Aber auf
der Ebene von Kirchengemeinden, gerade auch in ländlichen Regionen, können
sie an Einfluss gewinnen.
Gibt es Schnittpunkte, an denen sich die religiösen Glaubenssätze in
Politik übersetzen?
In vielen politischen Fragen sind sie politisch indifferent. Eines der
wenigen Felder, wo sie sich politisch und öffentlich positionieren, auch im
deutlichen Kontrast zur Mehrheitsgesellschaft, ist die Homosexualität. In
Bezug auf Geschlechterrollen und Sexualität werden sie politisch aktiv.
21 Apr 2019
## AUTOREN
Marinus Reuter
## TAGS
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