# taz.de -- SPD/FDP-Regierungsbildung vor 50 Jahren: Nostalgie und Attacke | |
> Andrea Nahles und Christian Lindner debattieren über die sozialliberale | |
> Koalition von 1969. Vor allem der FDP-Chef arbeitet sich an den Grünen | |
> ab. | |
Bild: Koalitionsgespräche 1969: Willy Brandt (SPD) und Walter Scheel (FDP) | |
Berlin taz | Dutschke und Dahrendorf, Brandt und Scheel, Sozialwohnungen | |
und Kaufhäuser, Mondlandung und Bonner Regierungsviertel. Zu Beginn des | |
gemeinsamen Abends von Friedrich-Ebert- und Friedrich-Naumann-Stiftung | |
laufen Bilder aus den sechziger und siebziger Jahren über den Schirm. Wohl | |
kein Jahrzehnt erfährt in Deutschland eine so nostalgische Verehrung wie | |
die Zeit der sozialliberalen Koalition – auch wenn Mehrheiten dafür heute | |
weit entfernt liegen. | |
Am Montagabend suchen SPD und FDP die Wiederannäherung. „Blick zurück nach | |
vorn – sozial-liberale Politik gestern und heute“ heißt die gemeinsame | |
Veranstaltung von Naumann- und Ebert-Stiftung auf neutralem Boden im | |
Berliner Allianz-Forum. | |
Die Bundestagswahl 1969 fand im September statt, die Wahl Willy Brandts zum | |
Kanzler im Oktober. Auch wenn man die Wahl Gustav Heinemanns zum | |
Bundespräsidenten im März 1969 mit den Stimmen von SPD und FDP als einen | |
ersten Testlauf für die sozialliberale Koalition sehen kann, ist es wohl | |
eher der Europawahl im Mai diesen Jahres geschuldet, dass die Stiftungen | |
die Jubiläumsveranstaltung auf den 1. April gelegt haben: Endlich einmal | |
ein Abend, an dem beide Parteien von besseren Zeiten träumen dürfen und die | |
leidigen Grünen nicht auf der Tagesordnung stehen. | |
Wobei sie den Abend doch entscheidend prägen. FDP-Chef Christian Lindner, | |
der gemeinsam mit der SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles auf der Bühne steht, | |
lobt die sozialliberale Koalition als Zeit der „unglaublichen Zuversicht“. | |
SPD und FDP hätten den Mut gehabt, sich „Lebenslügen“ zu stellen – zum | |
Beispiel bei der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. | |
## Mehr Trennendes als Gemeinsamkeiten | |
Aber was könnte SPD und FDP heute einen? Lindner nennt „Migration“ als | |
zentrales Thema. SPD und FDP seien „weltoffener“ als die CSU und hätten | |
gleichzeitig nicht den „naiven Idealismus“, den es bei den Grünen gebe und | |
der den „Verzicht auf Kontrolle und Grenze“ bedeute. Nahles pflichtet ihm | |
halbwegs bei: „Realismus ohne Ressentiments ist die Linie, auf der wir uns | |
bewegen können“. Ansonsten macht sie vor allem das Trennende zur heutigen | |
FDP deutlich: von der Frage der verpflichtenden Parität in den Parlamenten | |
bis zur Sozialpolitik in Europa. | |
Erst bei der Umweltfrage treffen sich beide wieder. Lindner verweist | |
darauf, dass die sozialliberale Koalition als erste in Deutschland | |
systematisch Umweltpolitik betrieben habe. Nach der Ölkrise 1973 habe man | |
diese leider aufgegeben und Akteuren überlassen, die „hart-linke, | |
kommunistische, das System verändernde Ansätze mit ökologischer | |
Verantwortung verbunden“ hätten. Als Folge werde bis heute ökologische | |
Politik mit Staatsinterventionismus verbunden: mit Quoten, Subventionen und | |
Verboten. | |
Lindner erwähnt den Soziologen Ulrich Beck, der bei Freunden ein | |
„Liebäugeln mit der ökologischen Steuerung von oben“ beobachtet habe. Das | |
habe Beck an den „autoritären chinesischen Staatskapitalismus“ erinnert. | |
Nahles stimmt ihm zu: „Wir gehen beide nicht über die Verbotslogik daran“, | |
sagt sie. „Wir brauchen Industrie und Produktion in Deutschland auch in | |
Zukunft.“ | |
## Seitenhieb auf Jamaika | |
Aber ob das reicht? Vielleicht im Grundverständnis. Lindner sagt zum | |
Abschluss, nicht Gemeinsamkeiten, sondern „wechselseitiger Respekt und | |
wechselseitiges Vertrauen“ seien Voraussetzung für eine Koalition – ein | |
versteckter Seitenhieb auf die Rolle der Union beim Scheitern von Jamaika. | |
Nahles kontert, ohne „Programm und Schnittstellen“ gehe es nicht. Dennoch | |
teile sie Lindners Ansicht, dass Respekt und Vertrauen wichtig seien. In | |
der großen Koalition habe es im vergangenen Jahr manchmal daran gemangelt. | |
Die offene Frage bleibt an diesem Abend: Ginge Respekt und Vertrauen auch | |
mit den Grünen – insbesondere, falls sie die stärkste Partei würden? Und wo | |
sollen die fast zehn Prozent herkommen, die einer Ampelkoalition im Bund | |
derzeit laut Umfragen fehlen? Eine Mehrheit für SPD und FDP liegt ohnehin | |
in weiter Ferne. | |
2 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Martin Reeh | |
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