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# taz.de -- Autor über flämische NS-Kollaboration: „Die Geschichte ließ mi…
> Die Rolle der belgischen Beamtenschaft während des Zweiten Weltkriegs ist
> kaum beleuchtet. Jeroen Olyslaegers fand darin Stoff für seinen neuen
> Roman.
Bild: „Im Zusammenhang mit der Nazizeit geht es immer um Gut und Böse“, sa…
taz: Herr Olyslaegers, Sie erzählen in Ihrem Roman die Geschichte eines
belgischen Hilfspolizisten im Zweiten Weltkrieg, eines flämischen
Kollaborateurs. An Romanen über den Zweiten Weltkrieg herrscht eigentlich
kein Mangel. Trotzdem erregte Ihr Buch große Aufmerksamkeit und wurde in
den Niederlanden und in Flandern ein Bestseller. Was meinen Sie selbst:
Warum verkauft er sich so gut?
Jeroen Olyslaegers: Stimmt, Bücher über den Krieg gibt es viele. Und es
gibt bei uns auch etliche Bücher über [1][die Kollaboration mit den Nazis].
Mein Erzähler Wilfried Wils ist auch so ein Kollaborateur, doch das
Besondere an ihm ist, dass er ein belgischer Polizist ist. Die Rolle der
belgischen Beamtenschaft wurde im niederländischen Sprachgebiet literarisch
noch kaum beleuchtet. Das war also neu.
Wilfried ist in Ihrer Erzählung inzwischen hochbetagt und erinnert sich,
wie er in den Antwerpener Polizeidienst eintritt und als Zwanzigjähriger
zum ersten Mal an einer Razzia gegen Juden teilnehmen muss.
Am Anfang der Geschichte schneit es, und Wilfried Wils läuft durch das
heutige Antwerpen. Es ist, als würde sich ein weißes Tuch über die Stadt
legen. Darauf beginnt Wilfried nun seine Erinnerungen zu projizieren. Als
Erstes denkt er zurück an den Winter 1940/41, als er mit seinem Kollegen
Lode von zwei deutschen Offizieren abkommandiert wird, um eine jüdische
Familie aufzugreifen. So etwas passierte damals zum ersten Mal in
Antwerpen. Die wirklich großen Razzias fanden ja erst ein, zwei Jahre
später statt. Anfangs wurden die Antwerpener Juden nach Sint-Truiden in der
Nähe der deutschen Grenze gebracht, wo sie auf den Obstplantagen arbeiten
sollten. Das aber waren improvisierte Aktionen, und so kamen die Juden
schon kurz darauf nach Antwerpen zurück.
Haben Sie Ihre Figur des Wilfried Wils erfunden? Oder gibt es für ihn ein
historisches Vorbild?
Mein Roman basiert auf einem Polizeibericht, einer Art internen
Selbstanzeige. Der Antwerpener Historiker Herman Van Goethem hatte ihn vor
einigen Jahren in einem Polizeiarchiv entdeckt. Darin schildert ein
Antwerpener Polizist, wie er am 15. 8. 1942 an einer Razzia gegen Juden
mitgewirkt hat. Er hebt auch hervor, dass er sich widerrechtlich verhalten
habe, denn so eine Razzia wurde zwar von den Besatzern angeordnet, verstieß
aber natürlich gegen belgische Gesetze. Das hat mich schon erstaunt. Doch
etwas anderes traf mich auch ganz persönlich: Der Polizist schilderte
nämlich auch, wie er und seine Kollegen damals im Haus Kruikstraat 8
anklopften. Ein jüdischer Mann öffnete die Tür und schnitt sich dabei die
Kehle durch. Im Haus fanden die Beamten seine ganze Familie, die sich
vergiftet hatte. Sie müssen wissen: Ich wohne selbst in dieser Straße und
kann von meinem Arbeitszimmer aus das Haus Kruikstraat 8 sehen. Diese
Geschichte ließ mich einfach nicht mehr los, und ich wollte ergründen, was
damals und auch später im Kopf eines solchen Polizisten vorgegangen sein
mag.
Haben Sie noch weiter über ihn recherchiert oder versucht, herauszufinden,
ob er womöglich noch lebt?
Nein. Ich habe sogar vergessen, wie er in Wirklichkeit hieß. Aber er hat
den Anstoß zu diesem Roman gegeben, obwohl er überhaupt nicht damit rechnen
konnte, dass irgendjemand auf seinen Bericht reagieren würde. Seine
Nachricht war wie eine Flaschenpost, die in ein Meer geworfen wurde, und
dieses Meer war die Zeit. Vielleicht hat der Polizist gehofft, dass sie
irgendwann einmal irgendwo ankommt. Letztlich kam sie bei Herman Van
Goethem an und dann auch bei mir.
Wilfried Wils ist das, was man heute als einen Mitläufer bezeichnen würde:
kein fanatischer Nazi, aber auch keiner, der seinen Job für einen höheren
Wert aufs Spiel setzen würde.
In Flandern würde man ihn einen tweezak nennen. Ein „Zweisack“ ist ein
schizophrener Typ. So einer ist Wilfried. An einem Tag nimmt er als
Polizist an einer Razzia teil, und an einem anderen Tag hilft er seinem
Freund Lode, einen Juden zu verstecken. Denn Lode wird im Laufe der
Geschichte aktiv im Widerstand. Wilfried findet das in Ordnung, trifft sich
aber auch mit seinem Freud Miesebart, der ein Antisemit der ersten Stunde
ist.
Sie führen eine Vielzahl politischer Haltungen vor, manche sind scharf
umrissen, andere bleiben unscharf oder wandeln sich im Laufe der
Geschichte. Eine ganz realistische Schilderung also. Ein breites
politisches Panorama – war Ihnen das wichtig?
Ja, unbedingt. Ich habe in der Vorbereitung auf den Roman nicht nur
wissenschaftliche Literatur über die Zeit der Besatzung gelesen, sondern
auch einige Tagebücher, in denen das ganze Alltagslavieren offenbar wurde.
Mir fiel dabei übrigens auch auf, wie viel die Antwerpener in den 40er
Jahren gefeiert haben. Sie gingen ins Kino, haben getrunken und hatten Sex.
Der reinste Eskapismus. Sie haben versucht, ihrem Leben den Anstrich von
Normalität zu geben. Das nenne ich im Roman „Normalitätssucht“. Normalit�…
wurde zu einer Obsession, obwohl diese Jahre alles andere als normal waren.
Gut und Böse sind in Ihrem Roman daher ziemlich im Fluss.
Im Zusammenhang mit der Nazizeit geht es immer um Gut und Böse. Für 95
Prozent der Menschen ist dabei völlig klar, was gut und was böse ist. Nur
Psychopathen kriegen das durcheinander. Das eigentliche Problem ist der
Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Schmerzhaft wird es erst, wenn
Menschen wissen, was verwerflich ist, wenn sie es aber trotzdem tun. Das
ist heute nicht anders als früher.
Sie haben den ganzen Roman in der Gegenwartsform geschrieben. Wilfried
erzählt stets im Präsens, ob er nun sein heutiges Leben als alter Mann mit
häuslicher Pflege beschreibt oder ob er in die 40er Jahre oder die
Jahrzehnte dazwischen zurückspringt. Warum?
Ich bin davon überzeugt, dass Geschichte niemals aufhört. Das ist mein
politisch-philosophischer Standpunkt. Geschichte ist nicht nur in einer
Stadt gespeichert, sondern auch in ihren Bewohnern. Zum Beispiel in
Wilfried Wils. Für mich ist Geschichte ein ewiges Jetzt. Das wollte ich
durch die Gegenwartsform auch fühlbar machen. Wilfrieds Erinnerungen
sollten etwas Dringliches haben.
Auch seine starke Ich-Perspektive macht die Geschichte eindringlich.
Für mich hat diese Geschichte eher etwas Erzählerisches als etwas
Romanhaftes. Wilfried spricht in Gedanken ja seinen Urenkel an, und ich als
Autor habe meiner Frau jeden Abend den Textabschnitt vorgelesen, den ich an
dem Tag geschrieben hatte. Das war unser Deal: erst vorlesen, dann essen!
Durch diesen täglichen Vortrag fand Wilfried Wils seine Stimme.
Mögen Sie Ihren Wilfried Wils eigentlich?
Ich habe ihn mit so viel Empathie wie möglich beschrieben. Denn ich möchte
gern, dass meine Leser sich mit ihm identifizieren können. Allerdings war
es für mich auch quälend, seine Erzählstimme jahrelang im Kopf zu haben.
Denn er sprach auch dann noch weiter, als ich das Buch längst abgeschlossen
hatte. Es lag schon in den Buchläden, und Wilfried sprach immer noch in
mir! Für einen Film, den das flämische Fernsehen damals über mich gedreht
hat, habe ich dann schließlich einen Brief an Wilfried geschrieben. Darin
habe ich ihn gebeten, endlich zu schweigen. Daraufhin verstummte er. Das
war interessanterweise fast so etwas wie ein Exorzismus.
16 Mar 2019
## LINKS
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## AUTOREN
Katharina Borchardt
## TAGS
Roman
Belgien
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