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# taz.de -- Pflege arabischstämmiger SeniorInnen: „Eine arabische Diakonie“
> In Berlin findet die bundesweit erste Tagung zur Pflege arabischstämmiger
> SeniorInnen statt. Höchste Zeit, sagt Nader Khalil vom Deutsch-Arabischen
> Zentrum.
Bild: Eine türkische Pflegerin vom Transkulturellen Pflegedienst in Hannover p…
taz: Herr Khalil, warum braucht es überhaupt eine Fachtagung, die sich mit
den Bedürfnissen arabischstämmiger SeniorInnen auseinandersetzt?
Nader Khalil: Die arabischstämmige Community in Berlin, die sich durch die
verschiedenen Flüchtlingswelle in den 60ern, 70ern und 80ern bildete, ist
in den letzten drei Jahren stark durch Migranten gewachsen. Die vor
Jahrzehnten gekommenen Ägypter, Jordanier, Palästinenser sind nun alt
geworden – wie die 68er ja auch (lacht). Außerdem sind mit den Syrern seit
2014 viele ältere Flüchtlinge hierher gekommen. Wir hier im
[1][Deutsch-Arabischen Zentrum des Evangelisches Jugend- und Fürsorgewerks]
merken, wie hoch der Druck bei den Alten ist: Zu uns ins Haus kommen
täglich 60 bis 80 Menschen, die ihre Unterlagen übersetzen und ausfüllen
lassen oder Verträge erklärt haben wollen. Im letzten Jahr halfen wir
12.000 Menschen; deshalb wissen wir, wo die Probleme liegen.
Was für Probleme?
Da waren in den letzten Jahren sehr viele Fragen von Älteren nach Anträgen
auf Pflege: Was kann ich tun, wo muss ich etwas beantragen, wie komme ich
an eine behindertengerechte Wohnung – solche Probleme. Es geht also um
Rechte und um entsprechende Angebote.
Wer kommt da, um Rat einzuholen?
Alle. In der arabischen Community gibt es eine Struktur, die strikt an der
Familie ausgerichtet ist: Wenn Vater oder Mutter alt werden, müssen wir das
unter uns regeln. Sie werden innerhalb der Familie, von den Söhnen und
Töchtern, gepflegt.
Also ohne die Hilfe von Pflegediensten?
Es gibt zwar eine Struktur, die familiär ist. Aber die Struktur, sich im
System Unterstützung zu holen, die gibt es nicht. Man pflegt die Mutter aus
religiöser, aus kultureller oder traditioneller Motivation, weil man das so
macht. Dadurch gibt es kaum Wissen darüber, was es alles an Hilfsangeboten
und Möglichkeiten gibt: Wo es zum Beispiel eine Tagesstätte gibt, wo der
alte Vater, statt tagelang allein vorm Fernseher zu sitzen, auch mal unter
Leuten ist. Die Pflegeeinstufung, die Frage nach einem Behindertenausweis
und andere Rechte – das ganze System kennt die arabischstämmige Community
nicht. Und wenn es Hilfsangebote gibt, dann sind die meist nicht
kultursensibel für die arabischstämmigen Menschen.
Das müssen Sie erklären.
Beispiel Tagesstätte: Die ist auf Deutsche ausgerichtet. Was könnte mein
alter Vater dort machen? Herumsitzen. Vielleicht kann er dort nichts mit
dem Essen anfangen. In welcher Ecke kann er beten? Wer spricht seine
Sprache? Oder im Pflegeheim und im Krankenhaus: Dort kommt die Familie zu
Besuch. Und die Araber kommen nicht zu zweit oder zu dritt, es sind viel
mehr. Deshalb haben wir eine Diskussionsrunde auf der Fachtagung „Der
arabische Patient“ genannt. Wir wollen der Frage nachgehen, was das für
Belastungen für die Angestellten bedeutet, wenn die Angehörigen Essen
mitbringen, wenn der Gebetsteppich ausgerollt wird …
Die deutsche Pflegelandschaft ist darauf gar nicht eingestellt, oder?
Genau. Das klar zu machen, ist das Ziel der Fachtagung. Darauf muss man
sich einstellen. Wenn man das nicht macht, dann haben wir irgendwann die
Situation, dass diese älteren Menschen auf den Bänken vorm Rathaus oder in
den Flüchtlingseinrichtungen sitzen und nichts mit sich anzufangen wissen.
Sie werden teilweise zur Belastung für ihre Umgebung, genau das wollen wir
aber nicht. Wir wollen für das Thema sensibilisieren.
Wie soll das gehen?
Etwa durch muttersprachliche Pflegekurse. Durch angepasste Angebote. Man
muss nicht alles neu erfinden. Es geht darum, die Angehörigen zu befähigen,
den ganzen Kosmos der Hilfsangebote für alte Menschen in der Familie zu
nutzen.
Haben Sie ein praktisches Beispiel? Hierzulande spielen alte Menschen in
der Tagesstätte Halma oder so. Jemand aus Syrien oder Palästina würde …
… eher Backgammon spielen. Und das haben sie oft gar nicht da. Anderes
Beispiel: Die riesigen Pflegeheime, die auf Rendite angelegt sind, sind
vielen ein Graus. Es braucht viel mehr kleinere Systeme, Wohngemeinschaften
für nur zwei oder vier alte Menschen, wo es dann ein extra Zimmer gibt, in
dem Verwandte bei Besuchen unterkommen können. Und auch an einen Gebetsraum
muss gedacht sein, an einen Aufenthaltsraum, und dass kein Schweinefleisch
auf dem Speiseplan steht, solche Dinge. Wenn man das alles beachtet, dann
könnte dieses System auch arabischstämmige Menschen erreichen. „Kulturell
sensibel“ heißen die Zauberwörter.
Denken wir an Erfahrungen mit türkischen SeniorInnen. Heißt das, dass man
auch endlich arabische Pflegedienste aufbaut?
Das ist sicher ein guter Weg! Man kann auch daran denken, eine arabische
Diakonie-Station einzurichten. Dann wäre die Hemmschwelle ganz niedrig.
Sie haben mit Ihrem Träger, dem EJF, doch jemanden an Ihrer Seite, der für
so etwas in Frage kommt. Oder ist das Zukunftsmusik?
Der Fachbereich Wohnen und Pflege im Alter und das DAZ sind im Austausch.
Der Senat muss Akzente setzen. Aber wenn wir uns nicht auf die Zukunft
vorbereiten, stehen wir eines Tages möglicherweise vor einem Problem. Sie
sagten es schon: Für die türkische Community gibt es schon entsprechende
Angebote; aber für die zweitstärkste Gruppe der Migranten noch nicht.
Deshalb sprechen wir auf der Tagung auch über eine Ausbildung von arabisch
sprechenden Fachkräften. Wir wollen junge Leute dafür gewinnen.
Aber das hätte alles schon viel früher passieren müssen?
Ja. Für arabischstämmige Senioren gab es so eine Fachtagung noch nie.
Deswegen ist das ein Meilenstein.
28 Feb 2019
## LINKS
[1] https://www.ejf.de/arbeitsbereiche/kinder-und-jugendhilfe/migration/kinder-…
## AUTOREN
Andreas Hergeth
## TAGS
Senioren
Migranten
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Migration
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