# taz.de -- Film „Asche ist reines Weiß“: China in der Transformation | |
> Jia Zhang-ke siedelt seinen Spielfilm „Asche ist reines Weiß“ im Norden | |
> Chinas an. Er folgt einem Paar von 2001 bis in die Gegenwart. | |
Bild: Qiao (Zhao Tao) weiß, wann man eine Pistole einsetzen muss | |
Im Hinterzimmer eines Kulturzentrums tummeln sich die Spieler und verzocken | |
beim Mahjong ihre spärlichen Einkünfte. Die Industriestadt Datong im Norden | |
von China ist beinahe pittoresk gelegen inmitten von Hügeln; eine | |
Güterzugstrecke verbindet die örtliche Kohlemine mit dem Rest des Landes, | |
ein Bus ist für den Personenverkehr zuständig. | |
Die junge Zhao Qiao und Guo Bin, eine Größe der lokalen Jianghu, wie sich | |
das organisierte Verbrechen in China nennt, sind ein Paar. In den frühen | |
2000er Jahren, zu Beginn des chinesischen Wirtschaftsbooms, ist das Paar | |
aus der Unterwelt der Stadt nicht wegzudenken und wirkt wie eine | |
selbstgewählte ordnende Macht. Qiao bewegt sich mühelos durch die | |
Männerwelt aus Industriearbeitern, Eisenbahnern und organisiertem | |
Verbrechen, in der Qiao als Tochter eines Minenangestellten aufgewachsen | |
ist. Nun soll die Mine geschlossen werden. | |
Als sie von einem Ausflug in die Stadt zurückkehrt, findet sie ihren Vater | |
im Aufenthaltsraum der Kohlemine. Der Vater sitzt vor einem Mikrofon und | |
macht seinem Frust über die Schließung der Mine und einen korrupten Kader | |
Luft. Wortlos hebt Qiao die Schnapsflasche hoch, prüft, wie viel ihr Vater | |
getrunken hat, und zieht den Stecker des Verstärkers, an dem das Mikrofon | |
hängt. „Komm, Papa, wir gehen nach Hause.“ | |
„Asche ist reines Weiß“, der neuste Film des chinesischen Regisseurs Jia | |
Zhang-ke, zeigt ein Land im Umbruch. Er folgt Qiao und Bin von 2001 bis in | |
die Gegenwart. | |
Die wilden Jahre zu Beginn der Transformation Chinas sind in dem Film ein | |
ungeordnetes Nebeneinander von Freiheit, zerbrechenden Welten, | |
organisiertem Verbrechen, Korruption und Aufbruchsplänen. Während Bin eines | |
Abends in seinem eigenen Nachtclub mit Qiao auf der Tanzfläche zu „YMCA“ | |
von den Village People tanzt, fällt ihm die Pistole aus dem Hosenbund. Nach | |
einem kurzen Moment des Schweigens tanzen sie weiter, bis Qiao sich löst, | |
nachdem sie Immobilienunternehmer Eryong gesehen hat und ihn über die | |
Tanzfläche zu Bin bringt. | |
## Partys und organisierte Kriminalität | |
Eryong beginnt das Gespräch damit, dass er Bin drei Bündel Geld reicht, er | |
möge Qiao was Hübsches kaufen. Der Immobilienunternehmer baut Villen, aber | |
seit das Gerücht kursiert, es spuke in den Villen, verkaufen die sich | |
schlecht. Er sucht jemanden, der das Gerücht verstummen lässt. Die | |
Partykultur, Ausgelassenheit und westliche Musik blühen ebenso wie neue | |
Allianzen: Die Protagonisten des Wirtschaftsbooms arbeiten mit der | |
organisierten Kriminalität Hand in Hand, um ihren Geschäften den Weg zu | |
ebenen. | |
Eryong will den beiden überdies etwas zeigen; will sie an seiner | |
Leidenschaft für Showtänze teilhaben lassen. Das junge Tänzerpaar, das er | |
in Trenchcoats mit in den Nachtclub gebracht hat, legt los und verwirrt die | |
Menschen auf der Tanzfläche mit einer Standardtanzeinlage. Ob Qiao | |
Standardtanz möge? „Zu westlich.“ Die Transformation ist eine Phase der | |
Neuausrichtung, der Suche nach neuen Identitäten im Zuge des Booms. | |
Kurz darauf ist Eryong tot. Erstochen. Der ermittelnde Kommissar kommt zu | |
Bin, schüttelt ihm die Hand, fragt, ob er eine Spur für ihn habe. Die | |
Zeiten werden härter in Datong, Bin wird von einer Gruppe jüngerer | |
Verbrecher attackiert, schließlich überfällt die Gruppe Bin und Qiao im | |
Auto. Qiao zückt eine Waffe, hält die Angreifer in Schach, wird aber für | |
illegalen Waffenbesitz zu fünf Jahren verurteilt. | |
„Asche ist reines Weiß“ kondensiert am Leben von Qiao und Bin die Hochphase | |
der chinesischen Transformation – der Bauboom, die Veränderung der | |
Infrastruktur sind tief in den Film eingeschrieben. Tuckern zu Beginn noch | |
vollgestopfte Busse über holperige Straßen, weichen diese mehr und mehr | |
komfortablen Zugverbindungen und diese wiederum schließlich | |
Hochgeschwindigkeitszügen. Als Qiao 2006 entlassen wird, steigt sie in | |
Yichang von der Fähre, kurz vor der Flutung der Gegend für den gigantischen | |
Drei-Schluchten-Staudamm. | |
## Haftstrafe und Männerwelt | |
Mit der Haftstrafe verschiebt sich der Fokus in Jia Zhang-kes Film, und | |
Qiao (gespielt von Jias Ehefrau Zhao Tao) wird vollends zum Zentrum des | |
Films. Bei der Reise durch das Land kreuzen sich ihre Wege wiederholt mit | |
Männern, die sich mit der hohlen Fassade hochfliegender Pläne umgeben. | |
Während Bins Bruch mit ihr nach ihrer Gefängnisstrafe ein Schlag für sie | |
war, geht Qiao aus all diesen Begegnungen unberührt hervor. Statt wie die | |
Männer auf die Umbrüche mit Luftschlössern zu reagieren, hat sie | |
beschlossen, nach Datong zurückzukehren und sich eine neue Existenz | |
aufzubauen. „Asche ist reines Weiß“ zeigt eine stille, lebensfrohe Frau als | |
Überlebensgenie inmitten einer Männerwelt, die zeitgleich expandiert und | |
implodiert. | |
Jia Zhang-ke ist eine zentrale Figur in der Gruppe chinesischer Regisseure, | |
die Mitte/Ende der 1990er Jahre mit Filmen über urbanes Leben in China und | |
zeitgenössischen Porträts einer Transformationsgesellschaft hervortraten. | |
Mehr als bei anderen Regisseuren verwoben sich in Jias Filmen | |
dokumentarische Elemente mit fiktionalen zu einer neuen Filmsprache, die | |
staunend das Geschehen zeigt und sich tastend an einer Einordnung versucht. | |
Im langsamen Erzähltempo seiner frühen Filme zwang Jia die Zuschauer, die | |
Beobachtung zu teilen, ähnlich wie der Dokumentarfilmregisseur Wang Bing | |
das in den langen Einstellungen seiner Filme tat. „Asche ist reines Weiß“ | |
ist der aktuelle Höhepunkt einer Entwicklung, die Jia 2008 mit „24 City“ | |
begann und in der er sich von der reinen Betrachtung der Gegenwart auf eine | |
Genealogie der Gegenwart verlegt hat. Jia zieht die Vorgeschichte der | |
Gegenwart heran, um sich einen Reim auf diese zu machen. | |
„Mountains May Depart“ von 2015 führte die Genealogie anhand einer | |
Familiengeschichte in die Zukunft fort, was dem Film nicht allzu zuträglich | |
war. „Asche ist reines Weiß“ verzichtet auf diesen Ausblick und beschränkt | |
sich darauf, anhand seiner Protagonisten die Vorgeschichte der Gegenwart zu | |
zeigen. Während das Land im kontinuierlichen Aufstieg begriffen zu sein | |
scheint, Bins ehemaliger Chauffeur es zu einem eigenen Bentley bringt, | |
befindet sich das Leben von Qiao und Bin nach der Gefängnisstrafe im freien | |
Fall. | |
Qiao scheint zumindest besser in der Lage, den Fall abzubremsen. Bin | |
hingegen wirkt, als wolle er jenen Hongkong-Actionfilm, den er zu Beginn | |
von „Asche ist reines Weiß“ sieht, auf unspektakuläre Weise nachleben. | |
Während Taylor Wongs „Tragic Hero“ von 1987 mit dem Tod der beiden | |
Protagonisten Andy Lau und Chow Yun-fat endet, ist Bin in seinen eigenen | |
Augen schlicht zu einem blassen Abglanz früherer Jahre verkommen. | |
In „Asche ist reines Weiß“ ist Jia einer seiner besten Filme seit Langem | |
gelungen. Qiao und Bin driften durch das Chaos der Veränderungen in | |
Richtung Gegenwart. Gemeinsam mit seinem Bildgestalter Eric Gautier findet | |
Jia Zhang-ke für den Film Bilder, die trotz ihrer gedämpften Farbigkeit nie | |
blass erscheinen. Die Bilder halten die beiden Protagonisten im Zentrum der | |
Erzählung, ohne darüber die Zustände, die sie umgeben, aus dem Blick zu | |
verlieren. Die Zeit ist in „Asche ist reines Weiß“ über die Protagonisten | |
hinweggegangen. Die Welle der Ereignisse hat sie mitgerissen und wieder an | |
Land gespült. | |
Jias Film ist eine Verneigung vor der Leistung, nach einschneidenden | |
Veränderungen wieder auf die Füße zu kommen, ohne das Scheitern an dieser | |
Herausforderung zu verurteilen. | |
27 Feb 2019 | |
## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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