# taz.de -- Simone Meiers Roman „Kuss“: Die dunklen Ecken der Herzen | |
> Flucht- und Heilsfantasie im Vorstadthäuschen: In ihrem zweiten Roman, | |
> „Kuss“, spielt die Autorin Simone Meier die Netzwerke des Begehrens | |
> durch. | |
Bild: „Kuss“ – In diesem Roman arbeitet die Autorin Simone Meier starke l… | |
Teo steht auf Valerie, Valerie vielleicht ein bisschen auf Yann, Yann auf | |
Valerie, aber eben auch auf seine Freundin Gerda, die wiederum mit Alex … | |
Ach, es ist kompliziert! Dabei könnte die Geschichte für Yann und Gerda so | |
einfach sein, denn endlich sind die Thirtysomethings angekommen im | |
Vorstadthäuschen. Gerda arbeitet schon seit geraumer Zeit nicht mehr in | |
ihrem Job in der Werbeagentur. Stattdessen hat sie ja nun ihr neues | |
Herzensprojekt gefunden: das Haus, das sich unter ihren Händen in ein Heim | |
verwandelt. Yann, der Politologe, findet das eigentlich gut. Durchaus kann | |
er sich vorstellen, in den Wänden des Häuschens eines Tages an das Bett | |
seiner zukünftigen Tochter zu treten und sie vor allen finsteren Übeln zu | |
bewahren. Finster und etwas übel wirkt auch die Nachbarin Valerie auf | |
Gerda. Valerie ist Journalistin um die Fünfzig und lebt allein im Haus der | |
verstorbenen Großmutter. All die Erinnerungen, die sich im Haus verbergen, | |
sie sind ihr eigentlich zu viel. | |
So viel zur Exposition dieses Romans der Schweizer Autorin Simone Meier, | |
die unter anderem für [1][ihre wunderbaren Kolumnen auf watson.de] bekannt | |
ist. Sie hat mit „Kuss“ ihren zweiten Roman vorgelegt. Neben der Vorliebe | |
für kurze, knackige Titel [2][verbindet ihn mit dem Vorgänger „Fleisch“] | |
die Lust am exzessiven Durchdeklinieren von Beziehungsklischees – die | |
bekanntermaßen oft zutreffender sind, als wir uns gern eingestehen. | |
Jedenfalls geht es in beiden Romane um Kabale und Liebe, um | |
Beziehungsgeflechte und Netzwerke des Liebens. Oder besser: des Begehrens. | |
In „Kuss“ werden sie überzeugend durchgespielt: Der allwissende Erzähler | |
(die Erzählerin?) taucht mal in das eine, mal in das andere Bewusstsein. | |
Immerzu kreisen die Fantasien und Träume der Protagonisten um den blinden | |
Fleck, den das Begehren fokussiert. Objet petit a, das [3][wissen wir von | |
Jacques Lacan], kann natürlich nie erreicht werden. Und bekommen wir doch | |
einmal, was wir wollen, gleitet das Begehren sogleich weiter zu einem | |
anderen Ziel. Nicht nur das Begehren verschiebt sich, auffallend oft müssen | |
sich die Protagonisten mit Homo- und Bisexualität auseinandersetzen, die | |
die Möglichkeiten des Begehrens vervielfältigen. | |
## Haus und sexuelle Gratifikation | |
In diesem Roman arbeitet die Autorin starke literarische Motive heraus. Da | |
ist natürlich der Kuss der Begehrenden, der immer etwas verhuscht und | |
unsicher ist. Da ist die Tapete in Gerdas Haus, unter der Seltsames zum | |
Vorschein kommt: Schicht um Schicht alten Lebens, wie Haut. Schließlich ein | |
Aderngeflecht in der Wand, das an das an den Knöcheln der alternden Valerie | |
erinnert. | |
Vieles von dem, was „Kuss“ durchexerziert, wäre aus der Feder eines | |
mittelalten weißen Mannes hochproblematisch: die blutjunge Frau, die | |
plötzlich auftaucht, um Yanns sexuelles Begehren zu befriedigen, die | |
Flucht- und Heilsfantasie, die Gerda mit dem Vorstadthäuschen verbindet, | |
dieses Emma-Bovary-Moment. „Er gab ihr Haus und Geld, sie gab ihm Heim und | |
sexuelle Gratifikation.“ Der bekannte Tauschhandel eben. Dann die Einsicht, | |
dass das Herz der jungen Frau mehr begehren könnte als einen passablen Job. | |
Und die Überforderung der Männer zwischen dem Begehren der Frauen und dem | |
eigenen. Ganz neu ist das nicht. | |
Meier lässt man es durchgehen, und es führt auch zu einem wesentlichen | |
Punkt des Textes: „Der Nestbautrieb junger Frauen? Ihre furiose | |
Zukunftsangst? Die Unsicherheit? Macht uns Männer müde.“ | |
Das sagt Valeries Lover Teo, das könnte aber ebenso von Yann geäußert | |
werden. Die Thirtysomething-Frau als Albtraum des Mannes, weil sie etwas | |
von ihm begehrt, was er eventuell nicht zu geben bereit ist. Valerie kann | |
darüber lächeln, ist über den Punkt längst hinaus, sie hat keine | |
Erwartungen an die Männer, die kommen und gehen dürfen. | |
Immer mal wieder taucht die Klassenfrage auf. Alex ist wohlhabend, Yann | |
kommt aus dem gehobenen Mittelstand, Gerda aber wuchs in ärmlichen | |
Verhältnissen auf. Ihre gebildete Mutter, Übersetzerin, verdiente als | |
Kreativarbeiterin nicht viel Geld. Nichts da mit distinguiertem Geschmack, | |
manchmal gruselt es Yann vor Gerdas Einfachheit, die sich im Kauf von | |
Mandarinen, die, oh Graus, kein Bioprodukt sind, manifestiert. | |
Vermeintlich offenbart sich Gerdas Einfachheit auch in ihrem Namen, der auf | |
das Mädchen im Märchen „Die Schneekönigin“ verweist, das dem Roman zwei | |
wichtige Motive borgt: den Spiegel und das Herz. All das, die | |
[4][polyamourösen Verwicklungen] und die durchdeklinierten Klischees gehen | |
nur auf, weil der Text in einem sehr lakonischen Tonfall daherkommt. | |
Man hätte das Motiv der Schichtungen, die das Begehren verhüllen, bis es | |
plötzlich aufbricht, noch weitertreiben können. Sehr plötzlich, gewaltvoll, | |
bricht der Roman ab. Vielleicht aber tut er gut daran, nicht alle dunklen | |
Ecken des Herzens auszuleuchten. | |
9 Feb 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.watson.ch/Simone+Meier | |
[2] /Zwei-Autorinnen-ueber-lesbischen-Sex/!5466135 | |
[3] /Lacans-Schriften-auf-deutsch/!5398184 | |
[4] /Veranstaltungen-zu-Polyamorie/!5548722 | |
## AUTOREN | |
Marlen Hobrack | |
## TAGS | |
Buch | |
Begehren | |
Roman | |
Liebe | |
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Zwei Autorinnen über lesbischen Sex: „Ich finde Anne Will super hot“ | |
Simone Meier und Patricia Hempel kannten sich bis zu dieser Begegnung | |
nicht, haben aber einiges gemeinsam: Sie lieben Frauen – und schreiben über | |
ihr Begehren. |