# taz.de -- Kahr-Prozess in Wien gegen Skiläuferin: Ende Legende | |
> Der Skitrainer Karl Kahr scheitert vor Gericht mit einer Klage wegen | |
> übler Nachrede. Im Prozess tauchen neue Details einer Kultur des | |
> Missbrauchs auf. | |
Bild: Will mit seiner Vergangenheit nicht mehr konfrontiert werden: Karl Kahr s… | |
WIEN taz | „Das ist Kasperltheater pur!“ Annemarie Moser-Pröll (65) macht | |
noch ihrer Verachtung des Gerichts Luft, als sie aus dem Saal stürmt. Sie | |
war „umsonst daher angereist“, weil der Anwalt des Klägers Karl Kahr, | |
Manfred Ainedter, sie zum zweiten Mal als Entlastungszeugin einvernehmen | |
wollte. Aber Richterin Daniela Flatz hatte sich am Nachmittag des zweiten | |
Verhandlungstages in der Causa Kahr bereits ein Bild gemacht und wies die | |
Zeugin Moser-Pröll ab. Die protestierte lautstark aus dem Zuschauerraum | |
heraus. „Wir sind hier nicht im Skizirkus“, belehrte sie der Verteidiger | |
der Angeklagten, Martin Mennel. | |
Die Richterin erinnerte die aufgebrachte einstige Skilegende daran, dass | |
man im Gerichtssaal seine Emotionen „bei sich behalten“ müsse. | |
Widrigenfalls werde man des Saales verwiesen. Moser-Pröll ging von selbst. | |
Die bizarre Szene ist typisch für die ungeschriebenen Machtgesetze, nach | |
denen Österreichs Werteordnung funktioniert. Die katholische Kirche und | |
der Skisport sind die identitätsstiftenden Institutionen, wobei im einen | |
Fall weniger der Glaube und im anderen Fall weniger der Sport zählt, | |
sondern die jeweilige Ordnung den wichtigsten Halt gibt. Der Verlauf des | |
Prozesses zeigte am Beispiel von Karl Kahr, Annemarie Moser-Pröll und | |
Anwalt Ainedter in geradezu prototypischer Ausprägung, zu welchen Mitteln | |
Vertreter und Profiteure dieser Ordnung zu greifen gewillt sind, wenn sie | |
ihre Welt bedroht wähnen. | |
Der erstangeklagte Ehemann der Ex-Skirennläuferin hatte Moser-Pröll eine | |
WhatsApp-Nachricht geschickt, in der sie aufgefordert wurde, über Kahr | |
„endlich die Wahrheit zu sagen“. Kahr, der mit „Toni Sailer zusammen viele | |
Mädchen missbraucht und gebrochen habe“ werde 2018 ohnehin „auffliegen“. | |
Die zweitangeklagte Ex-Skirennläuferin schrieb ihrer ehemaligen | |
Zimmerkollegin Moser-Pröll, sie solle sich daran erinnern, dass „Kahr dich | |
entjungfert hat. Du warst nicht einmal 16.“ | |
Zu Nicola Werdeniggs Schilderungen, [1][die im Rahmen der #MeToo-Kampagne | |
von weitverbreiteter sexualisierter Gewalt und von systematischem | |
Machtmissbrauch] im Bereich des österreichischen Skisportbetriebs berichtet | |
hatte, hatte Moser-Pröll in einem TV-Interview gesagt, es gehörten zu einer | |
Vergewaltigung „immer zwei dazu“, und sich lobend über Kahr geäußert. | |
Anlass der Nachricht des Ehemannes war ein Treffen, das tags zuvor in der | |
Wohnung Werdeniggs mit zwei Journalisten des Standards und dem ehemaligen | |
Stern-Reporter Bernd Dörler stattgefunden hatte. Der hatte Mitte der 70er | |
den Skandal von Zakopane vor Ort recherchiert, als ÖSV-Sportdirektor Anton | |
Sailer eine Prostituierte vergewaltigt und mit einer Flasche | |
lebensgefährlich verletzt hatte. | |
## Beinahe verblutet | |
Die Frau wäre beinahe verblutet. Dörler schilderte als Zeuge unter | |
Wahrheitspflicht die damals, wie er sagte, [2][von Sex und Suff geprägte | |
Atmosphäre im ÖSV-Skiteam.] Auch die Vorwürfe an Kahr seien ihm bekannt | |
gewesen; im Skizirkus sei offen über „sexuelle Gefälligkeiten“ gesprochen | |
worden, die ÖSV-Trainer für Startplätze entgegennähmen. | |
Kahr soll im Suff sogar damit angegeben haben, junge ÖSV-Skiläuferinnen | |
„alle selbst“ zu entjungfern. Selbst Kahrs inzwischen verstorbener Bruder | |
Luis habe ihm, Dörler, gestanden, die Familie Kahr schäme sich für den | |
alkoholkranken und übergriffigen Karl. Auch ein hoher ÖSV-Funktionär, | |
dessen Name er nicht nennen wollte, schilderte ihm Kahr als im Vergleich zu | |
Sailer größeres Problem. Doch es fand sich niemand, der die Vorwürfe auch | |
notfalls vor Gericht hätte bestätigen wollen. Das Schweigekartell, das laut | |
Dörler auch die Journalisten umfasste, hielt. | |
Bis Werdenigg 2017 den Diskurs über Macht und Machtmissbrauch im Skisport | |
eröffnete. An diesem Nachmittag im Dezember 2017 in Werdeniggs Wohnung | |
„kamen so viele Details zur Sprache“, sagte Werdenigg, dass der | |
Erstangeklagte als Außenstehender „leicht etwas verwechseln konnte“. Im | |
Zeugenstand bestätigte Werdenigg, dass in der Substanz die Nachricht aber | |
sehr wohl nachvollziehbar sei. | |
Werdenigg erzählte eine Geschichte, die den Umgang mit Frauen im damaligen | |
ÖSV-Team charakterisiert. So habe ein ÖSV-Mitarbeiter in Discos junge | |
Mädchen unter dem Vorwand von „Probeaufnahmen“ angelockt. Anderswo und in | |
einem Fall sogar in Kahrs Haus in Schladming seien dann pornografische | |
Film- und Fotoaufnahmen angefertigt worden. Die Filme „kursierten im | |
privaten Umfeld vom Herrenskiteam“, sagte Werdenigg. Aus den Fotos habe man | |
Alben zusammengestellt. Werdenigg: „Alle wussten davon, es wäre – abstrus, | |
wenn Karl Kahr nichts davon gewusst hätte.“ | |
## Schutzbehauptung in eigener Sache | |
Für Kahr und Sailer gilt zwar die Unschuldsvermutung. Aber um deren Schuld | |
ging es in Bludenz gar nicht. Es ging darum, ob die Angeklagten Kahr übel | |
nachgeredet hätten oder ihre Nachricht in gutem Glauben und nicht | |
öffentlich verbreiteten. Womit der Tatbestand der üblen Nachrede nicht | |
erfüllt wäre. | |
Der Anklagevertreter wählte Mittel der Diskreditierung, die schließlich von | |
der Richterin als untauglich und nicht zur Sache gehörend qualifiziert | |
wurden. So führte er – Kahr selbst war nicht anwesend – zwei Protokolle von | |
ÖSV-Sitzungen von Mitte der 70er-Jahre als Beweis dafür an, dass es keinen | |
Tatbestand der Vergewaltigung durch Sailer in Zakopane 1974 gegeben habe. | |
Es war fast rührend, zu sehen, wie Ainedter ein Statement eines | |
ÖSV-Funktionärs vorlas, der sich auf Sailers Behauptung, es sei „nichts | |
vorgefallen“, bezog und die Zeitungen entsprechend informiert habe. | |
Als wäre Sailers Schutzbehauptung in eigener Sache und der gute Glaube des | |
ÖSV so etwas wie ein Wahrheitsbeweis. Tatsache ist freilich, dass das | |
Zusammenwirken der polnischen Regierung und des österreichischen | |
Bundeskanzlers Bruno Kreisky Sailer vor gerichtlicher Verfolgung in Polen | |
bewahrt hatten. | |
Ainedter griff eine von Werdenigg irrtümlich an eine Nachbarin Moser-Prölls | |
versendete Nachricht auf. Sie habe die Frau kontaktiert und gebeten, die | |
Nachricht zu löschen, doch die sei bei Moser-Pröll und bei einem TV-Sender | |
gelandet, sagte Werdenigg. Eine Ausstrahlung habe sie mit gerichtlichen | |
Mitteln verhindern können. Nun begann Ainedter dennoch ungerührt, die | |
private und nicht zur Sache gehörige Nachricht vorzutragen. Da schlug | |
Werdenigg auf den Tisch und verlangte: „Das lesen Sie hier nicht vor, es | |
geht um meine verstorbene Mutter.“ Ainedter las ungerührt weiter, bis die | |
Richterin eingriff, ihm den Vortrag untersagte und das Publikum des Saals | |
verwies. | |
## Kampf um die Vergangenheit | |
Nachdem das Publikum wieder zugelassen worden war, wies die Richterin | |
sämtliche Zeugen und Beweisanträge des Anklagevertreters ab. Er wollte | |
unter anderen ÖSV-Generalsekretär Klaus Leistner aufmarschieren lassen. Die | |
Richterin hatte nicht den Eindruck, dass sie die bis dahin gewonnenen | |
Einsichten in die Glaubwürdigkeit der Angeklagten würden erschüttern | |
können. Die Richterin sah durch die Verteidigung den Beweis für den guten | |
Glauben erbracht und sprach die Angeklagten frei. | |
Zurück bleibt der Eindruck, dass der Ex-ÖSV-Angestellte Kahr durch seinen | |
Anwalt vor Gericht Praktiken walten lässt, die wiederum nicht gerade von | |
Respekt vor anderen zeugen. Die Fortsetzung findet eine Instanz höher im | |
Landesgericht Feldkirch statt. Mit jeder Runde vor Gericht stehen Kahr, | |
Sailer und der ÖSV und sein Umgang mit der Würde des Sportlers infrage. Der | |
Eindruck verfestigt sich, der Skirennsport in Österreich funktioniere als | |
Machtsystem. | |
Dazu tragen auch Fälle wie der der Frau bei, die im Spiegel von ihrer | |
Vergewaltigung durch Anton Sailer 1975 in Innsbruck erzählte. Damals habe | |
ihr niemand geglaubt, sagte sie in einem Interview im Dezember 2018 in | |
Wien. Ein Psychologe habe sie gefragt, ob das nicht eine | |
Jungmädchenfantasie sei. Sie verstummte, Magersucht, Bulimie, alle Folgen | |
des grässlichen Erlebnisses holten sie ein. Mittlerweile ist der Kampf mit | |
ihrem Körper, den sie nach jenem traumatischen Erlebnis ablehnte, | |
überstanden. | |
Der Kampf um die Vergangenheit des ÖSV hat erst begonnen, Kahrs Prozess ist | |
nur eine von vielen Facetten, von denen Teile der Öffentlichkeit und des | |
ÖSV bis heute nichts wissen wollen. Doch es wird schwieriger, sich der | |
Vergangenheit zu entziehen. | |
Ende 2018 bestätigte eine Untersuchungskommission des Landes Tirol, dass es | |
in Skisportschulen sexualisierten Missbrauch gegeben habe. Ein ehemaliger | |
Zögling der Schule betätigte das in einem Zeitungsinterview. Ende Oktober | |
2018 entließ ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel einen Trainer, der vor | |
Jahren in eine Gruppenvergewaltigung verwickelt und seither unauffällig | |
gewesen sein soll. Per Presseaussendung ließ Schröcksnadel verbreiten: „Es | |
gibt Vorfälle, die mögen juristisch verjähren, aber nicht moralisch.“ | |
12 Jan 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Sexistisches-Ski-Werbeplakat/!5556890 | |
[2] /Sexualisierte-Gewalt-im-Skisport/!5462532 | |
## AUTOREN | |
Johann Skojek | |
## TAGS | |
Ski | |
Schwerpunkt Sport trotz Corona | |
sexueller Missbrauch | |
Schwerpunkt #metoo | |
Sexualisierte Gewalt | |
Verdrängung | |
Schwerpunkt #metoo | |
Darts | |
Sexismus | |
Sexualisierte Gewalt | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Bedrohte linke Kneipen in Berlin: Sterndemo gegen Verdrängung | |
Am Samstag demonstrieren bedrohte Projekte in Berlin gegen | |
Immobilienspekulation. Die AktivistInnen wünschen sich „ein bisschen | |
Chaos“. | |
Dokumentation „Surviving R. Kelly“: Das #MeToo der Musikbranche | |
Seit Jahrzehnten werden dem R’n’B-Sänger R. Kelly sexueller Missbrauch und | |
Pädophilie vorgeworfen. Jetzt kommen Betroffene zu Wort. | |
Sexismus bei der Darts-WM: Eine Männerdomäne | |
Der Sport1-Kommentator Gordon Shumway verliert aufgrund von sexistischem | |
Gewäsch seinen Job. Doch das reicht noch lange nicht. | |
Sexistisches Ski-Werbeplakat: Schnell und mutig? Nee, lieber nackt | |
Der Österreichische Skiverband bewirbt den Damen-Ski-Weltcup mit einer | |
nackten Frau. Die sexualisierte Darstellung wird kritisiert. | |
Sexualisierte Gewalt im Skisport: Alltäglicher Missbrauch | |
Ehemalige Athletinnen berichten über sexualisierte Gewalt im | |
österreichischen Skiteam der 70er-Jahre. Der Verband sucht nach einer | |
Position. |