# taz.de -- Dinge des Jahres 2018: Bitte atmen Sie flach | |
> Berlin gewinnt gegen Stuttgart, zumindest wenn es um die am meisten | |
> luftverschmutzte Straße Deutschlands geht. Wie lebt es sich dort? | |
Bild: Dreckigste Straße – kein schöner Titel | |
BERLIN taz | Das Häuschen ist klein, nicht viel höher als ein Stromkasten. | |
Es ist in freundlichen Farben bemalt: eine Holzfassade mit Fenster, ein | |
hübsch bepflanzter Blumenkasten und ein kleiner weißer Hund, der einem | |
treuherzig entgegenschaut. Das Häuschen sieht aus, als wäre es der Kulisse | |
eines Heimatfilms entsprungen. Nur die beiden Metallstangen, die aus dem | |
Dach ragen, passen nicht ins Bild. Der idyllisch anmutende Klotz hat seiner | |
Heimat dieses Jahr einen unrühmlichen ersten Platz beschert: Die | |
Silbersteinstraße in Neukölln ist die dreckigste Straße Deutschlands. | |
PM10 heißt das unsichtbare Problem, besser bekannt als Feinstaub. Die | |
Hälfte seiner Teilchen hat einen Durchmesser von 10 Mikrometern. Für das | |
menschliche Auge sind sie unsichtbar, aber sie können tief in die Lunge | |
gelangen. Feinstaub entsteht unter anderem beim Heizen, durch Laserdrucker, | |
Silvesterfeuerwerk – und durch Verbrennungsmotoren im Straßenverkehr, vor | |
allem durch Dieselmotoren. | |
In Deutschland darf die Feinstaubbelastung eigentlich nicht über einen | |
festgesetzten Tagesmittelwert von 50 µg/m3 steigen. 36 Mal wurde dieser | |
Grenzwert 2018 in der Silbersteinstraße überschritten, das hat die kleine | |
Messstation herausgefunden. Damit liegt sie weit vor ihrer schwäbischen | |
Schwester am Neckartor in Stuttgart, die 21 Überschreitungen verbucht hat. | |
Die meisten deutschen Großstädte haben ein Feinstaubproblem. In Stuttgart | |
und Berlin haben Gerichte entschieden: Fahrverbote und andere Maßnahmen | |
müssen kommen. In München, Hamburg, Düsseldorf und Köln sieht es nicht viel | |
besser aus. | |
## Irritierend harmlos | |
Während die Politik mit Automobilherstellern und Umweltbehörden über den | |
richtigen Umgang streitet, zeichnen Messstationen im ganzen Land | |
Grenzwertüberschreitungen auf und Menschen leben jeden Tag mit den Folgen | |
der Partikel. | |
Caroline Breitenbach findet, dass das bemalte Häuschen vor ihrer | |
Eingangstür einen irritierend harmlosen Eindruck macht. Die 29-Jährige | |
wohnt seit einem Jahr im zweiten Stock der Silbersteinstraße 1, einem | |
Wohnhaus, dessen Fassade schon lange nicht mehr weiß ist. Ihre | |
WG-Mitbewohner haben ihr beim Einzug gesagt, sie müsse hier lernen, flacher | |
zu atmen. Ein bisschen im Spaß, ein bisschen im Ernst. | |
Das Feinstaubproblem, das für viele unsichtbar und abstrakt bleibt, ist in | |
Breitenbachs Alltag sichtbar und spürbar. „Der Dreck an den Fenstern macht | |
mir manchmal wirklich Sorgen. Nach zwei Wochen kann man kaum mehr | |
hindurchsehen“, sagt Breitenbach. Sie hat ihren Lebensstil angepasst: Keine | |
Wäsche auf den Balkon, Kräuter sowieso nicht. „Beim Durchlüften kann man | |
sich nie sicher sein, ob man es besser oder schlechter macht“, sagt sie und | |
lacht, obwohl es eigentlich nichts zu lachen gibt. | |
Breitenbach kommt vom Land, sie weiß, wie gute Luft riecht. Lange will sie | |
am Feinstaub-Hotspot nicht mehr wohnen. Sorgen machen ihr Langzeitfolgen | |
für alle Menschen, die hier bleiben müssen. | |
Für die Diskussion um Fahrverbote hat Breitenbach nicht viel übrig: „Es hat | |
Sinn, Autofahren unattraktiver zu machen. Aber gleichzeitig sollte man auch | |
die Preise im öffentlichen Nahverkehr anpassen, Fahrradwege ausbauen, | |
ganzheitlicher denken“, sagt sie. | |
Viele ihrer Nachbarn sprechen kein Deutsch, erzählt Breitenbach. Das | |
fröhlich bemalte Häuschen sei einigen aufgefallen, aber dass es Symbol | |
einer Gefahr für ihre Gesundheit sei, wüssten die wenigsten. | |
Auf der anderen Straßenseite steht Marijana Kolic im Erdgeschoss an ihrem | |
Fenster und schaut zur Messstation rüber. Die Rechtsanwältin hat ihre | |
Kanzlei schon seit zehn Jahren an dieser Straße. Schon lange ist sie vom | |
Dieselskandal und der Diskussion um Fahrverbote genervt. | |
„Das ist doch alles eine Scheindebatte“, sagt Kolic. „Sind Sie schon mal | |
mit offener Lüftung hinter einem Bus des öffentlichen Nahverkehrs | |
gestanden? Das ist eine lebensverkürzende Maßnahme, gratis.“ | |
Das Problem wird ihrer Meinung nach falsch angegangen. Auch sie plädiert | |
für eine ganzheitliche Lösung. Aufrüstung des öffentlichen Nahverkehrs, | |
Umsteigen auf Elektro-Antriebe, Ausbau der Fahrradwege – ihre Liste an | |
Vorschlägen ist lang. | |
## Atemwegsbeschwerden unbekannter Herkunft | |
„Mit dem Fahrrad zu fahren ist in manchen Teilen Berlins lebensgefährlich, | |
kein Wunder, dass die meisten mit dem Auto unterwegs sind“, sagt Kolic. | |
„Auch Bahnfahren ist eine Zumutung, der öffentliche Nahverkehr platzt aus | |
allen Nähten und wer keine Lust hat, mit Fremden auf Tuchfühlung zu gehen, | |
nimmt eben auch das Auto.“ Die kleine Uhr auf ihrem Schreibtisch wackelt, | |
während Kolic immer wieder mit der Hand auf den Tisch schlägt. | |
Seit einiger Zeit leidet sie an Atemwegsbeschwerden. Ob das mit dem | |
Feinstaub vor ihrer Tür zu tun hat, darüber mag sie nicht spekulieren. | |
„Besser gemacht hat es die Luft da draußen sicherlich nicht“, sagt sie. | |
Marijana Kolic geht um ihren Schreibtisch herum und zündet eine Duftkerze | |
auf der Fensterbank an. So riecht es ein wenig nach Indien. Drüben auf der | |
anderen Straßenseite im zweiten Stock sitzt Caroline Breitenbach bei | |
geschlossenem Fenster an ihrem Laptop und arbeitet. | |
Währenddessen schwanken draußen vor dem Fenster in aller Seelenruhe die Lkw | |
vorbei. Ein buntes Automeer presst sich durch die Straße, Deutschland | |
diskutiert immer noch über Fahrverbote und die kleine Messstation misst | |
unauffällig weiter. | |
28 Dec 2018 | |
## AUTOREN | |
Sara Tomsic | |
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