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# taz.de -- Kolumne Macht: Debatte mit hysterischen Zügen
> Nach der „Spiegel“-Affäre: Nicht mehr „schön“ schreiben, keine
> Auslandsreportagen mehr, Interviewpartner gegenchecken? Das wäre grotesk.
Bild: Im Fokus: der „Spiegel“
Wieder einmal sitzen viele Tausend Kaninchen vor einer ziemlich
abgetakelten Schlange. Wer von „Lügenpresse“ rede, werde sich nun bestäti…
fühlen, greinen viele in der Branche, nachdem der preisgekrönte
[1][Spiegel-Reporter Claas Relotius als Betrüger enttarnt] wurde. Ein
bisschen mehr Selbstbewusstsein wäre schön. Gerade jetzt.
Denn in Wahrheit bestätigt die Affäre Relotius nicht jene Leute, die für
ihre Ressentiments sowieso keine Argumente brauchen – sie widerlegt sie.
Wären nämlich Erfindungen und andere Lügen an der Tagesordnung, dann hätte
es keinen Grund für den Spiegel gegeben, den Vorgang im eigenen Haus zu
skandalisieren. So viel dazu.
Natürlich muss darüber geredet werden, was genau passiert ist und welche
Kontrollmechanismen möglicherweise versagt haben. Allerdings liegt die
Betonung auf möglicherweise. Für Kontrolle gibt es nämlich Grenzen, will
man ein halbwegs freies Arbeitsumfeld bewahren.
Die Forderung, man möge bei jedem Interview ein Aufnahmegerät einschalten
oder einen zweiten Kollegen mitnehmen, ist weltfremd. Manche Zitate fallen
eben erst nachts um elf in einer Bar, nachdem man fünf Stunden mit einem
Interviewpartner verbracht hat. Sollen wir künftig solche Zitate
weglassen? Auch das wäre ein Verzicht auf Abbildung der Realität.
## Keine internen Ermittlungsbehörden
Die Debatte nimmt mittlerweile hysterische Züge an. Alle Preise abschaffen,
sofort. Nicht mehr „schön“ schreiben. Vielleicht ganz auf
Auslandsreportagen verzichten, weil die sich so schwer überprüfen lassen.
Alle Interviewpartner von der Redaktion aus noch einmal anrufen, um
sicherzustellen, dass ein Gespräch tatsächlich stattgefunden hat.
Wenn ein Heiratsschwindler entlarvt wird, dann steht doch deshalb nicht die
Institution Ehe insgesamt auf dem Prüfstand. Auf den Abwehrkampf gegen
systematischen Betrug können – und sollten – sich zivile Unternehmen in
ihren Arbeitsabläufen nicht einstellen.
Eine Ärztin, die einem Patienten aufgrund eines Laborberichts bestimmte
Medikamente verschreibt, verlässt sich darauf, dass das Labor tatsächlich
Proben untersucht und ihr keine Fantasiedaten übermittelt hat. Soll sie
jedes Mal ein zweites Labor zur Kontrolle beauftragen? Im Journalismus sind
Abteilungen wie Dokumentation, Archiv oder Korrektur keine internen
Ermittlungsbehörden, sondern zunächst einmal dafür da, Texte zu verbessern.
Nicht mehr, nicht weniger.
Hätte Claas Relotius nicht immer dreister gefälscht, am Ende sogar bei
einer gemeinsamen Recherche mit einem Kollegen – [2][dieser Kollege, Juan
Moreno, ist übrigens der Held in der Affäre], er hätte einen Preis
verdient! –, vielleicht wäre er nie aufgeflogen. Der Eindruck drängt sich
auf, dass Relotius am Ende enttarnt werden wollte, dass er die inneren
Widersprüche nicht mehr ausgehalten hat.
Das müssen Fachleute klären. Gegenüber seinen Vorgesetzten soll er gesagt
haben, dass er sich selbst für krank hält und Hilfe in Anspruch nehmen
will. Ferndiagnosen, noch dazu von Laien, verbieten sich. Befremdlich aber
ist die Gnadenlosigkeit, mit der sein ehemaliger Arbeitgeber ihn an den
Pranger gestellt hat.
Überhaupt, der Spiegel. Wenn an dieser ganzen, traurigen Geschichte
irgendetwas lustig ist, dann die Hybris des Magazins. Allen kann so etwas
passieren, aber uns doch nicht. Uuuuuns doch nicht.
Doch, auch euch. Uns allen eben. Es hat Medienskandale in der Vergangenheit
gegeben, es wird sie in der Zukunft geben. Und wenn alle mal wieder von den
Bäumen runterkommen, auf die sie in den letzten Tagen geklettert sind, dann
können wir uns vielleicht sogar sachlich darüber austauschen, wie sich
Risiken verringern lassen. Es wäre der Mühe wert.
22 Dec 2018
## LINKS
[1] /!!5557396
[2] http://www.spiegel.de/video/betrugsfall-beim-spiegel-juan-moreno-ueber-fall…
## AUTOREN
Bettina Gaus
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