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# taz.de -- Gastkommentar Hartz-IV: Schröder ein Denkmal errichten
> Die Agenda 2010 war erfolgreich, meint Michael Theurer von der FDP.
> Möglichkeiten für Zuverdienste müssten neu geregelt werden.
Bild: „Fördern und Fordern“ aufgeben, damit täte man niemandem einen Gefa…
Es gibt im deutschen Sozialsystem eine Reihe an Absurditäten und
Fehlanreizen. Der Letzte, der es geschafft hat, dagegen wirkungsvoll
vorzugehen, war der SPD-Kanzler Gerhard Schröder. Die Sozialdemokraten
sollten stolz darauf sein, welch sichtbare Erfolge als Resultat der
Agenda-Reformen eingetreten sind. Die Anzahl der
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist um mehr als 5 Millionen
Menschen gestiegen und die (Langzeit-)Arbeitslosigkeit hat sich mehr als
halbiert. Sie waren der Startschuss für den größten und längsten
Wirtschaftsboom seit dem Wirtschaftswunder – vielleicht in der ganzen
deutschen Geschichte. Eine Arbeiterpartei müsste Schröder ein Denkmal
errichten.
Es ist auch lediglich ein Gerücht, es habe in Deutschland einen sozialen
Kahlschlag gegeben. Weiterhin geben wir ein Drittel der Wirtschaftsleistung
für Sozialtransfers aus. Normalverdiener ächzen unter der zweithöchsten
Steuer- und Abgabenlast aller Industrieländer, Unternehmen unter der bald
höchsten Steuerlast weltweit. Menschen mit mittleren Einkommen und kleine
und mittlere Unternehmen tragen dabei die Hauptlast. Die Belastungsgrenze
ist überschritten und erste Eintrübungen der Konjunktur zeichnen sich ab.
Neue Transfers im zwei- oder dreistelligen Milliardenbereich wären wohl
wirtschaftspolitischer Suizid.
Wenn wir heute über eine weitere Sozialstaatsreform diskutieren, müssen wir
uns zunächst fragen, was die Zielsetzung eines Sozialstaats sein sollte.
Die Agenda-Reformen hatten das Ziel, möglichst viele Menschen in Arbeit zu
bringen. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass ein auf Verstetigung von
Arbeitslosigkeit ausgerichtetes Sozialsystem auf Dauer das bestehende
Wohlstandsniveau nicht halten kann und gleichzeitig Arbeit nichts per se
Schlechtes ist: Sie stiftet Sinn und Selbstverständnis, während
Langzeitarbeitslosigkeit oft in Depression und Verzweiflung mündet.
Gerade deshalb ist es konsequent, von Arbeitslosen eine tätige Mithilfe bei
der Suche nach einer neuen Beschäftigung oder Qualifikation von staatlicher
Seite einzufordern. Wenn jemand vom Lohn seiner Arbeit nicht vernünftig
leben kann, gibt der Staat noch etwas dazu – wer im gleichen Job mehr
arbeitet, soll auch mehr bekommen.
## Ende von Sanktionen auf Kosten der Schwächeren
Diese Grundprinzipien sind gesamtgesellschaftlich akzeptiert. Auch wenn es
medial anders klingt: Es ist eine verschwindend kleine Minderheit, welche
beispielsweise Sanktionen für Grundsicherungsempfänger abschaffen will. So
wie nun eine grüne Politikerin Knecht Ruprecht abschaffen will, weil man
Kinder niemals bestrafen dürfe, so wollen auch die Spitzen von Grün-Rot-Rot
die Grundsicherungsempfänger nicht mehr sanktionieren, wenn sie
beispielsweise wiederholt nicht zu vereinbarten Terminen erscheinen.
Man stelle sich vor, man würde andere erwachsene Menschen so
infantilisieren, indem man etwa einem Handwerker, der nie erscheint, einen
Auftrag nicht entzieht oder akzeptiert, dass die Feuerwehr einfach nicht
kommt. Diese Denke mag im akademischen Elfenbeinturm oder in Berliner
Politzirkeln gefeiert werden, als gerecht oder sinnvoll werden es
arbeitende Normalbürger nicht empfinden. Würde man das Prinzip „Fördern und
Fordern“ aufgeben, täte man nahezu niemandem einen Gefallen. Das Ende von
Sanktionen würde massiv zulasten der Schwächsten gehen: einerseits durch
eine stärkere Stigmatisierung, andererseits durch eine fehlende
Aktivierung.
Diese ist jedoch das entscheidende Stichwort. Das aktuelle System ist aus
der Arbeitsmarktlage um die Jahrtausendwende entstanden: hohe
Arbeitslosigkeit, kaum etwas, das man Arbeitssuchenden bieten kann. Damit
sie zumindest irgendetwas machen, hat man 1-Euro-Jobs eingeführt und einen
Freibetrag von 100 Euro, bei dem es für Arbeit keinen Transferentzug gibt.
## Vermögensgrenzen anheben
Versetzen wir uns in die Situation eines Menschen, der wenig verdient oder
seinen Arbeitsplatz verloren hat, oder jemand, der sich nach einer
Krankheit Schritt für Schritt zurückkämpfen will. Dieser Person wird erst
einmal gesagt: Kündige deine Altersvorsorge und verkaufe deine Wohnung.
Erst musst du völlig verarmen, bevor du Solidarität erfährst. Das geht so
nicht, die Vermögensgrenzen müssen angehoben werden.
Dann findet sie eine kleine Anstellung oder einen Minijob und kann sich
zunächst freuen: Im untersten Einkommensbereich gibt es einen Freibetrag
von 100 Euro, die sie komplett behalten darf, von den nächsten 100 Euro
werden 20 Euro als Transferentzug abgezogen. Wenn sie jedoch beim aktuellen
Mindestlohn mehr als 5 Stunden pro Woche arbeitet kommt der Schock. Denn
danach gibt es einen Einkommensbereich, in dem sich weiterer Hinzuverdienst
kaum lohnt. Vom jeweils nächsten verdienten Euro werden erst 80, dann 90
Cent abgezogen – und dann alles. Durch die Kombination verschiedener
Sozialleistungen kann es sogar dazu kommen, dass ein höherer
Bruttoverdienst am Ende zu einem niedrigeren Netto führt.
Besonders bitter ist dies beispielsweise für einen alleinerziehendes
Elternteil, der zunächst mit 50 Prozent Teilzeit wieder einsteigt. Wenn die
Kinder dann in der Schule sind, will er vielleicht wieder 60 oder 70
Prozent arbeiten, bekommt jedoch für mehr Arbeit keinen Cent extra.
Die bestehenden Zuverdienstmöglichkeiten sind also leistungsfeindlich und
ungerecht. In den frühen 2000ern musste man sich damit zufriedengeben, dass
viele Arbeitslose aufgrund der angespannten Arbeitsmarktlage möglicherweise
nur einen 1-Euro-Job bekommen. Heute ist das anders – es gibt viele
Stellen. Statt die Menschen also durch ein leistungsfeindliches System
künstlich in geringfügigen Beschäftigungen zu halten, sollten einerseits
der Freibetrag und die erste extrem geringe Entzugsstufe wegfallen,
andererseits jedoch darüber der Transferentzug deutlich geringer ausfallen.
Orientierungsgröße sollte dabei 50 Prozent Transferentzug sein; in jedem
Fall sollte er nach Möglichkeit nie über 70 Prozent liegen. Arbeit muss
sich lohnen.
17 Dec 2018
## AUTOREN
Michael Theurer
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