| # taz.de -- Leben im Funkloch: Null G in NRW | |
| > Wenn Holger Hengersbach mobil telefonieren will, muss er auf einen Berg | |
| > fahren. In seinem Dorf Brenschede gibt es keinen Empfang und kaum | |
| > Internet. | |
| Bild: Unter allen Wipfeln ist Ruh | |
| Brenschede taz | Wenn Holger Hengesbach seine SMS abholen will, steigt er | |
| in seinen Mitsubishi Pajero. Im Geländewagen biegt er vom Hof ab und rollt | |
| einen Feldweg rauf zum Weidentor. Dort steigt er aus, zieht das Tor auf, | |
| steigt wieder ein, fährt durch – steigt wieder aus, drückt das Tor zu und | |
| schwingt sich hinters Steuer. Der Wagen brummt die Weide hoch, einen | |
| steilen Hang hinauf. „Zum Glück sind keine Kühe auf der Weide“, sagt er u… | |
| der Pajero ruckelt, „sonst müssten wir uns noch kümmern, dass sie nicht | |
| wegrennen oder vors Auto laufen. Kühe sind sehr neugierig.“ | |
| Auf einer Höhe von 450 Metern über dem Meeresspiegel zieht Holger | |
| Hengesbach die Handbremse. „Hier ist so der Bereich, wo der | |
| Mobilfunkempfang beginnt.“ Er zückt sein Handy und steigt aus. Unter ihm im | |
| Tal quillt Rauch aus den Schornsteinen. | |
| Brenschede, wo Holger wohnt, liegt im Sauerland, 60 Kilometer von Dortmund | |
| entfernt. Im ganzen Dorf gibt es kein Netz, von keinem Anbieter. Etwa 65 | |
| Menschen leben hier in einem Funkloch: Seit Jahren kämpfen sie um Empfang. | |
| Bisher vergeblich. „Kein Handynetz, kein 1G“, sagt Hengesbach. „Wir haben | |
| gar nichts. Wir haben 0G.“ 0G, das bedeutet null Empfang. Dabei sind | |
| Politik und Technik heute damit beschäftigt, den Mobilfunk-Standard noch | |
| weiter zu erhöhen – bis auf 5G. | |
| In anderen Gemeinden sieht es nicht viel besser aus. „In einer | |
| Nachbargemeinde ist ein Mitarbeiter der Stadtwerke immer in seiner Küche | |
| gefangen, wenn er Bereitschaft hat. Das ist der einzige Raum, in dem sein | |
| Bereitschaftshandy Netz hat. Wenn er sie verlässt, verletzt er seine | |
| Dienstpflichten. Die Küche ist sein persönliches Gefängnis.“ In einem | |
| anderen Dorf hat man um das Haus eines Feuerwehrmanns alle Bäume gefällt: | |
| „Seitdem geht sein Handy drinnen wenigstens ein bisschen.“ | |
| ## Die 4G-Abdeckung beträgt 65 Prozent | |
| Was die sogenannte 4G-Abdeckung betrifft, liegt Deutschland noch hinter | |
| Albanien. Das britische Unternehmen Open Signal hat die Netzabdeckung in | |
| Europa erfasst: Demnach ist die Lage in Norwegen am besten, mit einer | |
| 4G-Abdeckung von 92 Prozent. Albanien kommt auf 67, Deutschland auf 65 | |
| Prozent. Platz 32. | |
| Die Funklöcher sind so zahlreich, dass Wirtschaftsminister Peter Altmaier | |
| (CDU) kürzlich sagte: „Ich habe inzwischen meinem Büro erklärt, dass ich | |
| bitte auf Fahrten nicht mehr mit ausländischen Ministerkollegen verbunden | |
| werden will, weil es mir total peinlich ist, wenn ich dann dreimal, viermal | |
| neu anrufen muss, weil ich jedes Mal wieder rausfliege.“ | |
| Holger Hengesbach wäre schon glücklich, wenn er hin und wieder rausflöge. | |
| Würde das doch bedeuten, dass er auch mal ein Netz hätte. Hat er aber nie, | |
| nur hier oben auf dem Berg. Als er sein Handy anschaltet, pingt es wie eine | |
| betrunkene Fee. Ding, ding, ding – „verpasste WhatsApp-Nachrichten kommen | |
| jetzt rein“– ding, ding, dong – „ein entgangener Anruf“ – dong – … | |
| entgangener Anruf“ – dong – „noch’n entgangener Anruf“ – ding, di… | |
| „91 neue Nachrichten!“ Holger Hengesbach runzelt die Stirn. Obwohl Samstag | |
| ist, sind einige Nachrichten beruflicher Natur. | |
| ## „Mein Chef schüttelt nur den Kopf“ | |
| Seinen Hof in Brenschede betreibt Holger Hengesbach nebenbei: | |
| Hauptberuflich arbeitet der 35-Jährige als IT-Spezialist. Sein Arbeitgeber | |
| produziert 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Hengesbach hat dafür zu | |
| sorgen, dass die Software funktioniert. „Manchmal komme ich montags rein | |
| und alle gucken mich böse an. Dann weiß ich: Da war wieder was.“ Zum Glück | |
| habe seine Unerreichbarkeit für ihn bisher keine ernsten Folgen gehabt. | |
| „Mein Chef hat da Verständnis. Er schüttelt nur den Kopf, dass es so was | |
| noch gibt.“ | |
| Drei Jahre ist es her, da hatte der damalige Bundesverkehrsminister | |
| Alexander Dobrindt (CSU) gesagt: „2018 sind dann auch alle lästigen | |
| Funklöcher in Deutschland geschlossen.“ Nun ist 2018 fast vorbei. Die | |
| Funklöcher sind noch da. Und Dobrindts Nachfolger Andreas Scheuer (CSU) | |
| will das Problem bis Ende 2021 gelöst haben. Eine durchgängige | |
| Netzabdeckung „gehört zur Grundversorgung“, sagte er. Wenn Holger | |
| Hengesbach versucht, im Wohnzimmer etwas im Internet nachzuschauen, lacht | |
| ihn der Browser aus. „Hier kommt der sympathische Dinosaurier: ‚Bitte | |
| stellen Sie eine Verbindung her.‘“ Holger legt das Handy weg. „Wir sind | |
| hier in der Dinosaurierzeit.“ | |
| Nur oben auf dem Berg zeigt sein Handy etwas anderes an als „Kein Netz“. | |
| Hier zeigt es „E“. Das steht für „Edge“ wie Kante: Es gehört zur Gene… | |
| 2G und ist viel, viel langsamer als das 4G. GroßstädterInnen treibt das „E�… | |
| in U-Bahnen regelmäßig zur Verzweiflung. Aber Holger Hengesbach freut sich. | |
| „E ist gut. Mit E kann man surfen!“ | |
| An Edge sieht man auch, dass das mobile Internet in Deutschland nicht erst | |
| seit Kurzem hinterherhinkt. In der Schweiz war es 2005 mit einer | |
| Bevölkerungsabdeckung von 99,6 Prozent ausgebaut. Da hatte die Telekom den | |
| Ausbau in Deutschland noch nicht einmal angefangen. Das tat sie 2006. Um | |
| ein Bild zu suchen und zu laden, braucht Holger Hengesbach mehr als zwei | |
| Minuten. Doch Warten mache ihm nichts, sagt er. Er sei es gewohnt. Das | |
| Wetter sei ja gut heute. „Hauptsache, Netz.“ | |
| ## Ein Fortschritt ist in Brenschede nicht in Sicht | |
| Wenn im Frühjahr 2019 die 5G-Frequenzen versteigert werden, wird Holger | |
| immer noch auf dem Berg seine SMS abholen müssen. Die Bundesregierung hat | |
| angekündigt, das Telekommunikationsgesetz zu ändern und „lokales Roaming“ | |
| vorzuschreiben. Damit könnten in einem Funkloch alle kostenlos das Netz | |
| eines anderen Betreibers nutzen, falls es eins gibt. | |
| Die Netzbetreiber protestieren: Die Telekom ließ wissen, wenn sie die | |
| Konkurrenz auf ihre Antennen lassen müsse, entwerte das Investitionen in | |
| Funkmasten. Auch die Bundesnetzagentur sagt, es sei „fraglich, ob und in | |
| welchem Umfang ein Netzbetreiber in den weiteren Netzausbau – insbesondere | |
| im ländlichen Raum – investieren wird, wenn er im Nachhinein Wettbewerber | |
| auf sein Netz lassen muss“. | |
| Holger Hengesbach lacht darüber. „Die Netzbetreiber? Investieren? In den | |
| ländlichen Raum? Seit Jahren haben wir hier null Funkmasten: Den einen, den | |
| es gab, hat man abgeschaltet. Hier wohnen zu wenig Kunden.“ Hengesbach | |
| hatte auf andere Versteigerungsauflagen für 5G gehofft. „Man könnte den | |
| Netzbetreibern vorschreiben, eine bestimmte Prozentzahl der Fläche zu | |
| versorgen“, sagt er. Entschieden hat die Bundesnetzagentur anders: | |
| Bis Ende 2022 sollen mindestens 98 Prozent der Haushalte in Reichweite | |
| eines schnellen Netzes sein. Außerdem sollen weitere Funklöcher bis Ende | |
| 2024 geschlossen werden, durch Ausbau an allen Bundes- und Landstraßen, | |
| Zugstrecken, Häfen und wichtigen Wasserstraßen. „Für Orte wie Brenschede | |
| ändert das nichts“, sagt Holger Hengesbach. „Wenn 5G kommt, haben wir immer | |
| noch 0G.“ | |
| „Es gibt hier inzwischen mehrere Häuser, bei denen wissen wir nicht, wer | |
| sie übernehmen soll“, sagt Hengesbach. Zuzug gebe es selten. „In den | |
| letzten Jahren ist eine Familie von außerhalb hergezogen. Sie wussten | |
| Bescheid, dass es hier weder Mobilnetz noch DSL gibt. Aber sie meinten, das | |
| ist nicht schlimm. Es ist ja sehr schön hier.“ Keine zehn Monate später sei | |
| die Familie wieder weggezogen. „Es war ein zu starker Verlust an | |
| Lebensqualität für sie. Sie haben das unterschätzt.“ Holger Hengesbach | |
| streicht über sein Handy. „Es ist wohl schwer, sich das als Alltag | |
| vorzustellen, wenn man es nicht kennt.“ | |
| Mit lockeren Auflagen bringt eine Versteigerung dem Staat mehr Einnahmen. | |
| Durch die Versteigerung von 3G-Lizenzen im Jahr 2000 flossen über 50 | |
| Milliarden Euro in die Staatskasse. Noch 2015 zahlten Telekom, Vodafone und | |
| O2 insgesamt über 5 Milliarden für Frequenzen. „Wir erwarten, dass die | |
| Auktion einen starken Impuls für einen raschen Ausbau der Breitbandnetze | |
| insbesondere im ländlichen Raum setzt“, sagte damals der Präsident der | |
| Bundesnetzagentur, Jochen Homann. | |
| ## Internet gibt's nur per Satellit | |
| Davon hat Holger Hengesbach nichts bemerkt: In Brenschede hat er nicht nur | |
| kein Handynetz. Auch mit dem Internet ist es schwierig. Das bekommt er nur | |
| über Satellit: 45 Euro im Monat für 25 Gigabyte. „Netflix oder Amazon | |
| Prime, so etwas kann ich nicht nutzen. Ich hab zwei Schränke voll mit | |
| Discs.“ Seine Steuererklärung macht er auf Papier. „Die Reaktion des | |
| Finanzamtes ist, dass sie das nicht annehmen und mein Einkommen geschätzt | |
| worden sei. Jedes Jahr. Einer meiner Nachbarn ist Berufsfußballer, aber | |
| Champions League streamen, das kann er hier nicht.“ | |
| Mobiles Internet ist in Deutschland viel teurer als im EU-Durchschnitt. Für | |
| 25 Euro bekommt man hier etwa 15 Gigabyte im 4G-Netz: in Dänemark und den | |
| Niederlanden gibt es dafür unbegrenztes Volumen. In Litauen kostet | |
| unbegrenzt 4G rund 16 Euro, und in Frankreich gibt es für 20 Euro immerhin | |
| 100 Gigabyte. VerbraucherschützerInnen und Monopolkommission warnen schon | |
| lange, die Konkurrenz sei zu klein: In Ländern mit drei oder weniger | |
| Anbietern seien Preise hoch, ebenso dort, wo Mobilanbieter auch | |
| Festnetzbetreiber seien. | |
| Beides trifft auf Deutschland zu. Nur Telekom, Vodafone und O2 haben eigene | |
| Netze. Sie begründen Preisunterschiede damit, dass die Staaten nicht | |
| vergleichbar seien. Obwohl EU-weit die Roaming-Gebühren abgeschafft wurden, | |
| ist EU-Konkurrenz praktisch ausgeschlossen: Einen ausländischen | |
| Mobilfunkvertrag darf man in Deutschland nur drei Monate lang nutzen. | |
| ## Bei Schlechtwetter hilft nur höher den Berg hinauf | |
| Für Holger Hengesbach ist ein Lichtstreif, dass er bald immerhin Internet | |
| über Kabel bekommt. „Mit Zuschuss aus Steuergeldern hat die Telekom Kabel | |
| verlegt.“ Verträge könnten die Menschen in Brenschede vorerst nur bei der | |
| Telekom abschließen. „Das DSL wird stark gedrosselt sein.“ Was den | |
| Mobilfunk betrifft, stellt sich Holger auf weiteres Warten ein. „Wir | |
| kämpfen seit Jahren. Aufgeben werde ich nicht.“ Bis das Netz nach | |
| Brenschede kommt, wird Hengesbach weiter auf 450 Metern über dem | |
| Meeresspiegel seine SMS abholen – bei gutem Wetter. „Manchmal ist der Berg | |
| nicht hoch genug. Wenn’s trüb ist – so Feuchtigkeit, Regen –, dann ist d… | |
| Mobilfunk selbst hier oben weg. Dann muss ich höher fahren, tief in den | |
| Wald rein. So kann ich nochmal 50 Höhenmeter gewinnen. Die helfen meist.“ | |
| 13 Dec 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Anett Selle | |
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