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# taz.de -- Veranstaltungen zu Polyamorie: Nimm doch alle!
> Eine Veranstaltung zu polyamorer Liebe platzt aus allen Nähten. Das
> Redebedürfnis über die Beziehungsform ist groß, Erfahrungen gibt’s noch
> wenig.
Bild: So ganz einfach ist sie nicht, die Liebe zu vielen
Berlin taz | Der Raum der Naturfreundejugend in der Neuköllner
Weichselstraße ist übervoll. Und unspektakulär: ein Flipchart und eine
PowerPoint, weiße Wände und Plastikklappstühle. Es drängeln sich an die 70
Menschen rein, dann ist Schluss. „Ich bin eine Stunde hierhergefahren“,
motzt eine, für die der Platz nicht mehr gereicht hat.
Sie ist nicht die Einzige, die in den kalten Montagabend zurückgeschickt
wird – rund 30 Leute ketten ihre Fahrräder wieder ab oder drücken die Ohren
an die Scheiben, um doch etwas von dem mitzukriegen, was drinnen besprochen
wird.
Es gibt ein offenbar großes Bedürfnis, sich über polyamore Erfahrungen
auszutauschen. Und genauso fehlt es in Berlin an Schutzräumen, in denen es
einen wertungsfreien Austausch über die eigene Beziehungsform gibt. Denn:
Jede Poly-Beziehung ist so unterschiedlich wie die Menschen, die sie
gestalten.
Polyamorie ist ähnlich wie „queer“ ein Oberbegriff: für alles, das nicht
einer Beziehungsnorm entspricht. Was nicht exklusive Zweierbeziehung ist,
kann polyamore Beziehung genannt werden. Das Bedürfnis, Antworten und Tipps
zu erhalten, bestimmt auch diesen Abend. Und wird ein wenig enttäuscht.
## Noch nicht vom Mainstream infiziert
Womit Prem und Ann Antidote den Poly-Abend eröffnen, ist dann doch eher
Theorie. Prem und Ann leben beide nicht monogam, sie leben generell nicht
zusammen. Prem ist Soziologe, und Ann hat einfach Ahnung, weil sie selbst
seit mehr als 30 Jahren in Poly-Beziehungen lebe und schon mehrere
Poly-Netzwerke gegründet hat.
So stehen die beiden vor der großen Gruppe, betonen den interaktiven
Charakter der Veranstaltung – „Fragt alles, was ihr schon immer mal wissen
wolltet“, klicken sich durch die PowerPoint und malen Beziehungskonstrukte
aufs FlipChart.
„Auch wenn es gerade ein Hipster-Trend zu sein scheint und viele sich
deshalb zum ersten Mal damit befassen: Polyamorie ist noch lange nicht vom
Mainstream infiziert“, sagt Ann Antidote. Friends with benefits, offene
Beziehung, rumficken, Dreieck, ja selbst das glückliche, weil
selbstbestimmte Single-Dasein sei eine Form von Polyamorie – weil es nicht
monogam ist und damit gesellschaftlich nicht denselben Rückhalt und
dieselben Privilegien hat wie die klassische romantisierte Zweierbeziehung.
Dennis ist hier, weil er bis jetzt „nur Hetero-Mono-Beziehungen hatte“ und
darüber so empört ist, dass er sich gleich mal die Fingernägel lackiert
hat. Josephine plant schon seit einiger Zeit, ein Kind zu bekommen mit
einem schwulen Freund. Inga hat festgestellt, dass „Vollzeitjob und
polyamore Beziehungen für mich nicht funktionieren“ – also hat sie ihre
Arbeitszeit auf 20 Stunden die Woche reduziert. Die versammelte
Filterbubble jubelt.
## Schwierige Verhandlungen
Zum Erfahrungsaustausch geht es dann in Kleingruppen. Und während 70 Leute
im Raum versuchen, das beste Konzept für die Diskussion in der Gruppe
auszuhandeln, bekommt man einen Eindruck davon, wie schwierig das sein
kann, sich in einer Partner*innenschaft mit mehreren Personen zu
verständigen: Vorschlag – Gegenvorschlag – Kompromiss.
Dabei ist gerade dieses Ausdiskutieren in einer polyamoren Beziehung super
wichtig, findet Antidote: „In polyamoren Beziehungen können alle
Partner*innen grundsätzlich alles hinterfragen. Das fängt bei den
klassischen Rollenmodellen an über die sexuelle Orientierung bis hin zu
eigenen, ganz persönlichen Grenzen.“ Gerade die zu definieren und
transparent zu machen, sei besonders für „Anfänger*innen“ oft ungewohnt u…
schwierig.
Als die Kleingruppen gesprächsbereit sind, wird es tatsächlich noch
persönlich. Es geht um Kinder in Poly-Beziehungen, mit denen noch niemand
in der Runde Erfahrungen hat, um Frustmanagement und Grenzensetzen. Oder
Unicorn-Hunting: ein heterosexuelles Paar, das nach einer bisexuellen Frau
sucht. Der Traum des weißen Cis-Mannes.
Austausch, der auch abseits von Poly-Beziehungsmodellen überfällig und in
organisierten Offline-Runden viel zu selten ist, finden die
Organisator*innen. „Es braucht mehr Netzwerke, für Emotionen, Informationen
und Austausch. Nur das hat mir letztlich geholfen, weil mich
Mono-Beziehungen auf Dauer unglücklich gemacht haben“, sagt Prem.
## Polyamorie als Privileg?
Dabei gibt es in Berlin schon einen Poly-Stammtisch, Facebook-Gruppen und
im Netz ganz viele Artikel zum Thema. „Ein Problem ist dabei sicher, dass
auch das Forschungsfeld Polyamorie noch von sehr weißen, sehr
privilegierten Menschen behandelt wird“, sagt Prem, nun wieder zurück im
versammelten 70-köpfigen Plenum. Und wer sich an diesem Abend umschaut,
stellt schnell fest, dass Theorie und Praxis zumindest in diesem Punkt
nicht weit auseinanderliegen.
Die Folge: „Ich habe eine Freundin, die ist of Colour. Und sie sagt mir
immer wieder, dass sie mit Rassismus- und Fluchterfahrung den Kopf einfach
voll hat“, erzählt eine Teilnehmerin. Polyamorie, ein Privileg für
Privilegierte?
„Wie auch immer eine Poly-Beziehung ausgestaltet sein mag: Oft ist sie noch
geprägt von monogamen Strukturen und Machtverhältnissen“, gibt Prem mit auf
den Weg. Der einzige Ausweg sei, ständig neu zu verhandeln und Grenzen zu
definieren. „Aber das ist ja voll anstrengend“, flüstert Jenny und packt
ihren Spekulatius wieder in die Tasche.
20 Nov 2018
## AUTOREN
Marc Feuser
## TAGS
Polyamorie
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