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# taz.de -- Kommentar Retropien und Nostalgie: Die Sehnsucht nach mehr Lametta
> Zwei Drittel der Menschen in Deutschland glauben: Früher war die Welt
> besser. Viele verorten sich politisch rechts von der Mitte.
Bild: 2015 hat der letzte Lametta-Hersteller in Deutschland die Produktion eing…
Damals, als die Welt noch in Ordnung war, als die Menschen noch richtige
Lieder sangen, für Arbeitnehmerrechte demonstrierten, noch nicht immerzu
auf ihre Handys glotzten und noch Tierfelle trugen, damals schrieb ein
[1][Mann namens Loriot] ein Stück namens „Weihnachten bei Hoppenstedts“.
Der Nachwuchs bekommt darin einen Atomkraftwerk-Bausatz geschenkt und der
bekannteste Satz ist der des Großvaters, der über den Wandel der Zeiten
klagt: [2][„Früher war mehr Lametta!“]
Es ist ein Sketch, der gerne als zeitlos beschrieben wird. Aber man muss
nur mal ein Kind fragen, ob es die Pointen darin versteht, eines jener
nachgeborenen Geschöpfe also, die wohl annehmen müssen, dass ein
Fußballtrainer nur Joachim Löw heißen kann und [3][Angela Merkel seit
Anbeginn der Welt das Land regiert]. Das Kind wird schauen wie ein Auto und
dann fragen: „Ähm, excusez-moi, aber was ist dieses Lametta?“
Alles hat seine Zeit. Die des Lamettas liegt hinter uns. Nicht mehr lange,
und die Kinder wissen auch nicht mehr, was ein Atomkraftwerk ist. Es gibt
freilich Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als dass nach der
Ära Merkel jemand das Rad zurückdreht auf einen Urzustand, in dem wir alle
einander die Läuse von den Köpfen knibbelten, was ungefähr in jener Zeit
gewesen sein muss, in der Friedrich Merz das Feuer erfand.
Aus dem vulgärkonservativen Wunsch nach einer Rückkehr in eine frühere Zeit
spricht der Traum von einer überlieferten Ordnung, die längst zu Staub
zerbröselt ist. Sicherheit war gewährleistet, denn Amerika war der beste
Partner. Der Strom kam aus der Steckdose. Europa war Friede, Freude,
Freiheit und wir Männer konnten samstags nach dem Autowaschen im Keller
unsere Modelleisenbahnen bauen und zum Mittagessen kurz hochkommen. Die
Anzugherren in Bonn sorgten für die sichere Rente.
## Zwei Drittel der Menschen in Europa sind nostalgisch
Aber dieser Zustand wird nicht zurückkommen. So wenig wie der Zustand
zurückkommen wird, in dem es keine Ehe für alle gab, oder jener, in dem
Männer zur Bundeswehr eingezogen wurden, um ein Jahr lang zu lernen, wie
man betrunken Stiefel schnürt. Wer dahin zurückginge, wäre auch nicht
konservativ, sondern antimodern, was immer noch ein Unterschied ist.
Nur, die Position, dass früher alles irgendwie besser war, ist keine
Minderheitenposition. Laut einer nun veröffentlichten Erhebung der
[4][Bertelsmann-Stiftung ist eine Mehrheit der Europäerinnen und Europäer
nostalgisch]. Zwei Drittel von ihnen und 61 Prozent der Deutschen sind
demnach der Ansicht, dass die Welt früher besser gewesen sei. Je älter die
Befragten sind, desto eher glauben sie das der Umfrage zufolge. Und je eher
sie dieser Auffassung sind, desto eher verorten sie selbst sich rechts der
politischen Mitte.
Aber auch in anderen Kreisen, in denen man sich selbst für progressiv hält,
ist im Angesicht des Wandels durchaus eine emotionale Zurückhaltung an der
Grenze zur Angst zu bemerken. Fehlen die positiven Visionen? Oder fehlt das
Vertrauen in positive Visionen? Großen Entwicklungen folgte jedenfalls
schon oft eine Phase, die von Desillusionierung geprägt wurde.
## Vergangenheit verkauft sich gut
Das Internet etwa: irgendwie ziemlich im Eimer. Obama: [5][Toll, nur kam
danach eben Trump]. Pop: einst ein politisches Versprechen – aber im
Vergleich mit der Konsumwelt, in der sich YouTube-Stars tummeln, wäre
selbst ein Revival der grundehrlichen Haarspray- und Levis-Botschafter der
Achtziger und Neunziger rebellisch.
Keine Veränderung zum Schlechten gilt vielen derzeit als größter
vorstellbarer Erfolg. Ein Europa, das wenigstens nicht ganz kaputtgeht –
wow! Eine Arbeit, die auch in zehn Jahren noch mies bezahlt wird – das wäre
doch was!
Hinzu kommt, dass sich [6][Vergangenheit blendend verkauft]. Tourismus etwa
lebt auch von der Behauptung der Authentizität, einer vorgegaukelten
Echtheit, die sich aus dem Gestern speist: Die einen haben ursprüngliches
Fachwerk, ganz neu gebaut, die anderen bieten natürliche Berge oder von
Menschen kaum je betretene Strände. Dass die Alpen in ihrem Naturzustand
undurchwanderbar wären, vermittelt sich auf den Postkartenmotiven eher
nicht.
## Eine Zombie-Vergangenheit, so inexistent wie die Zukunft
Wir leben in einer Zeit der Retrotopien, in der die Frage, wo vorne ist,
von einigen sehr grundsätzlich mit „hinten“ beantwortet wird.
„Retrotopien“, so hat es der [7][Soziologie Zygmunt Bauman kurz vor seinem
Tod 2017 genannt], sind „Visionen, die sich anders als ihre Vorläufer“ –
also die Utopien – „nicht mehr aus einer noch ausstehenden und deshalb
inexistenten Zukunft speisen, sondern aus der
verlorenen/geraubten/verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit“.
Der Witz an dieser Zombie-Vergangenheit ist, dass sie so inexistent ist wie
die Zukunft. Die Literaturwissenschaftlerin Svetlana Boym sieht in der
Nostalgie „ein Gefühl des Verlusts und der Entwurzelung“, aber auch „eine
Romanze mit der eigenen Fantasie“. Die Erkenntnis, die der Satz „Früher war
mehr Lametta“ transportierte, den heute noch Leute wie eine Bauernregel
halb ironisch, halb seufzend durch die Kommentarspalten schleifen, schließt
hier an, als Kalenderspruch zur Gegenwart.
Übersehen darf man dabei nur eines nicht: 2015 hat der letzte
Lametta-Hersteller in Deutschland die Produktion eingestellt. Aus dem
Bundesverband für den gedeckten Tisch, Hausrat und Wohnkultur hieß es
damals, Lametta sei „völlig out“.
Früher war mehr Lametta – das ist kein Witz mehr. Das ist ein Fakt. Es will
einfach niemand mehr haben. Es würde einen aber nicht wundern, wenn
demnächst jemand versucht, sein politisches Programm mit einem
Lametta-Revival zu verkaufen, an ein paar Emotionen kann man damit ja
vielleicht trotzdem andocken: Gute deutsche Lametta-Tradition, in der Ära
Merkel beendet, oder so.
Lassen Sie uns dann aber bitte stark sein. Lassen Sie uns aufstehen und
sagen: [8][Nein, Herr Spahn]!
11 Nov 2018
## LINKS
[1] /Komiker-Klassiker-Loriot-wird-85/!5172901
[2] /Kolumne-Liebeserklaerung/!5260118
[3] /Kanzlerin-Angela-Merkel/!5545008
[4] http://eupinions.eu/de/text/the-power-of-the-past/
[5] /Erster-Tag-von-US-Praesident-Trump/!5376770
[6] /Verlassene-Orte-in-Brandenburg/!5014029
[7] /Nachruf-auf-Zygmunt-Bauman/!5370814
[8] /Bachelor-Studium-fuer-Hebammen/!5543872
## AUTOREN
Klaus Raab
## TAGS
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