| # taz.de -- Medizinhistoriker über Stress: „Stress ist nahezu überall“ | |
| > In beinahe allen Lebensbereichen sind wir Stress ausgesetzt – auf der | |
| > Arbeit, in der Beziehung, ja selbst beim Sex. Warum nur tun wir uns das | |
| > an? | |
| Bild: Auch in der Arbeitswelt könnte ein Großteil des Stresses vermieden werd… | |
| taz: Mehr als jeder Zweite in Deutschland fühlt sich gestresst. So das | |
| Ergebnis einer repräsentativen Umfrage der Techniker Krankenkasse (TK) aus | |
| dem Jahr 2016. Aber was, Herr Stoff, ist eigentlich Stress? | |
| Heiko Stoff: Der Begriff an sich ist tatsächlich sehr unscharf. Bei der | |
| Frage, was Stress ist, kommt es daher auch darauf an, wen man fragt. Für | |
| Evolutionsbiologen ist Stress in der Regel ein typisches | |
| Reiz-Reaktions-Muster, ohne das der Steinzeitmensch nicht überleben konnte. | |
| Das heißt, stand ihm in der Wildnis ein Säbelzahntiger gegenüber, löste das | |
| einen Schreck aus und sein Herz schlug schneller. Der Körper war also in | |
| Alarmbereitschaft und bekam das Signal: „Renn weg!“ Oder: „Mach dich | |
| kampfbereit!“ Wer in so einer Situation nicht gestresst war, sondern | |
| gechillt sitzen blieb, wurde gefressen. | |
| Frei nach dem Motto: Nur der Gestresste überlebt. | |
| So wird es zumindest evolutionsbiologisch erzählt. Dem Mediziner Hans | |
| Selye, der das Stresskonzept in den 1930ern entwickelte, ging es hingegen | |
| um etwas anderes: Er wollte zeigen, wie der Körper sich mittels Hormonen an | |
| äußere Reize anpasst oder dies – und jetzt sind wir beim Stress – eben | |
| nicht schafft. | |
| Können Sie das genauer erklären? | |
| Selye ging davon aus, dass der Körper durch bestimmte Außenreize ständig zu | |
| hormonell gesteuerten Anpassungsleistungen gezwungen wurde. Misslang dies, | |
| entstand Stress. Egal ob dem Menschen kalt war, er sich verletzte oder | |
| sozial unter Druck stand – in allen Fällen schüttete der Körper bestimmte | |
| Hormone aus und veränderte damit das hormonelle Gleichgewicht. Dabei | |
| unterschied Selye auch zwei Arten von Stress. „Eustress“ war der „gute“ | |
| Stress, also derjenige, der uns dazu bringt, Herausforderungen anzunehmen. | |
| „Distress“ definierte er hingegen als einen „schlechten“, einen durch | |
| falsche Anpassungsleistungen durchaus auch selbst verschuldeten Stress – | |
| und einen, der den Menschen auf Dauer krank machen kann. | |
| Anders als in der Evolutionsbiologie wurde Stress also zu einem | |
| Krankheitskonzept, das Körper und Psyche verbindet. | |
| Genau. Als Historiker interessiert mich, warum dieses Stresskonzept über | |
| die Jahrzehnte so populär wurde. Mittlerweile ist Stress nahezu überall und | |
| betrifft quasi all unsere Lebensbereiche. Wir haben ihn auf der Arbeit, in | |
| der Beziehung, beim Sex – selbst die Natur scheint heutzutage unter Stress | |
| zu stehen. Diese Ausweitung lässt sich seit den 1980ern erkennen und darauf | |
| aufbauend hat sich eine regelrechte Industrie entwickelt. Yogakurse, | |
| Entspannungsübungen, Ratgeberliteratur – sie alle sollen uns helfen, mit | |
| unserem Stress richtig umzugehen. Stressmanagement ist zum | |
| Glücksversprechen geworden. | |
| Das müssen Sie erklären. | |
| Unsere Gesellschaft baut auf der Vorstellung auf, dass Leistung Erfolg | |
| bringt – und dass Erfolg uns glücklich macht. Damit verbunden ist der | |
| Mythos, dass aus jedem von uns etwas werden kann, wenn wir uns nur hart | |
| genug anstrengen. Die Realität sieht jedoch anders aus. Das heißt, Kinder | |
| aus reichem Elternhaus haben es im Leben bekanntlich leichter als solche, | |
| deren Eltern Hartz IV beziehen. Dass Leistung automatisch Erfolg bringt und | |
| damit glücklich macht, ist ebenfalls widerlegt. Das ständige Scheitern | |
| dieses modernen Versprechens, dass Leistung zu Erfolg und dann auch zu | |
| Glück führt, lässt sich als Stress bezeichnen. | |
| Demnach können wir heute nur noch glücklich werden, wenn wir lernen, mit | |
| dem Stress umzugehen. | |
| Richtig. Denn, wer keinen Stress hat, ist irgendwie auch verdächtig, | |
| erscheint uns als eine Person, die sich nicht richtig anstrengt, die ihre | |
| Fähigkeiten nicht voll ausschöpft. Wichtig ist in diesem Sinne nicht | |
| Stressvermeidung, sondern der richtige Umgang mit ihm. „Resilienz“, also | |
| die Fähigkeit, sich gegen Stress widerstandsfähig zu machen, wird deshalb | |
| als ein „Geheimrezept für ein erfolgreiches und glückliches Leben“ | |
| angepriesen. | |
| Dauerstress steigert das Risiko, eine Herz-Kreislauf-Krankheit zu | |
| entwickeln, schwächt das Immunsystem, macht uns Menschen auch anfälliger | |
| für Depressionen – mit anderen Worten: Stress belastet auch das | |
| Gesundheitssystem. Ist es dann nicht auch Aufgabe der Politik, den Stress | |
| zu reduzieren? | |
| Auf jeden Fall. Mehr Kita-Plätze, bezahlbarer Wohnraum, ein höherer | |
| Mindestlohn – all das wären sinnvolle Methoden, um das abzubauen, was als | |
| Stress beschrieben wird. Das Konzept „Leistung bringt Erfolg und macht | |
| glücklich“ wird sich dadurch allerdings nicht ändern – und solange wir ke… | |
| anderes haben, bleibt das richtige Stressmanagement Aufgabe des | |
| Individuums, wird sogar Teil seiner Identität. | |
| Kann man dieser Verantwortung auch etwas Positives abgewinnen? | |
| Es ist in den letzten Jahrzehnten so viel vom Stress geredet worden, dass | |
| der Begriff langsam entwertet ist. Meine Hoffnung ist, dass dies dazu | |
| beiträgt, dass wir auch die Vorstellung, das Leistungsprinzip sei ein | |
| Glücksversprechen, als Grundlegitimation unserer Gesellschaft wieder in | |
| Frage stellen. | |
| 3 Nov 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Stella Hombach | |
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