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# taz.de -- Präsidentschaftswahl in Brasilien: Eine schreckliche Wahl
> Am Sonntag wird in Brasilien der nächste Präsident gewählt. Favorit ist
> der Rechtsextremist Jair Bolsonaro. Wie konnte es so weit kommen?
Bild: Der rechte Kandidat Bolsonaro hat viele Anhänger beim Militär
Rio de Janeiro taz | Der Platz vor den Arcos da Lapa im Zentrum von Rio de
Janeiro quillt über. Nur mit Mühe schlängeln sich die unzähligen
Händlerinnen durch die Menge. Überall sieht man die roten T-Shirts der
Arbeiterpartei und das Lila der Aktivistinnen. Großzügig werden Aufkleber
mit der Zahl 13 – der Kennziffer der Arbeiterpartei PT – und mit dem Slogan
#EleNão, #DerNicht, verteilt. Die Stimmung ist kämpferisch. Doch bei vielen
ist Anspannung zu spüren und auch Angst.
Zehntausende sind zur letzten [1][Wahlkampfveranstaltung von Fernando
Haddad] gekommen. Der Kandidat der Arbeiterpartei liegt im Umfragen rund 14
Prozentpunkte hinter dem Rechtsextremisten Jair Bolsonaro. „Doch, es ist
noch möglich, das Ruder herumzureißen. Wir müssen mit den Menschen reden,
jeden Einzelnen überzeugen“, sagt ein älterer Mann. Eine junge Frau ruft:
„Bolsonaro predigt Hass gegen Frauen, gegen Schwarze und gegen alle
Minderheiten. Wenn er regieren sollte, wird es noch mehr Gewalt geben. Vor
allem Polizeigewalt in Armenvierteln.“ Auf dem Platz und unter Linken und
bürgerlichen Demokraten ist es Konsens, dass ein Sieg Bolsonaros Brasilien
in Richtung Faschismus rücken würde.
Wenig später sind plötzlich Pfiffe zu hören. Der Rapper Mano Brown hat auf
der Bühne das Wort ergriffen. „Wenn es der Arbeiterpartei nicht gelingt,
die Sprache der einfachen Leute zu sprechen, dann wird sie eben verlieren!“
Ein Misston, der auf Veranstaltungen der Arbeiterpartei selten zu hören
ist. „Mir gefällt diese Feierstimmung nicht“, fährt Brown mit ernster
Stimme fort. „Unser Problem ist die Blindheit. Wir müssen verstehen, was
die Leute bewegt. Wenn wir dies nicht wissen, geht zurück an die Basis und
hört zu!“
Brown spricht denjenigen aus dem Herzen, die Haddad wählen werden, nicht
weil, sondern obwohl er die Arbeiterpartei vertritt. Nach 14 Jahren an der
Macht und der [2][Absetzung der Präsidentin Dilma Rousseff durch ein
umstrittenes Amtsenthebungsverfahren] weigert sich die Partei, Selbstkritik
zu üben. Einst entstanden als breite Sammlungsbewegung gegen die
Militärdiktatur, ist die PT längst eine Partei mit den typischen Merkmalen
des Politsystems in Brasilien: hierarchische Struktur im Inneren,
fragwürdige Allianzen, Machterhalt um jeden Preis.
## Keine Rechtfertigung für eigenes Fehlverhalten
Die schwerste Bürde ist die Korruption: die Parteienfinanzierung durch
überteuerte Auftragsvergabe an Staatsunternehmen oder als Gegenleistung für
politische Gefälligkeiten an Großunternehmen. Zwar ist der Einwand richtig,
dass es Korruption immer schon gab und dass die Konservativen ebenso viel
oder noch mehr abzweigten. Doch die PT regierte in den Jahren, in denen das
Fass überlief. Die Kritik, dass die Rechte die Korruptionsermittlungen als
politisches Kampfmittel nutzt, ist ebenso richtig wie unzureichend, um das
eigene Verhalten zu rechtfertigen.
Für viele ist die PT deswegen unwählbar. [3][Gefühlt ist sie für manche
auch für die langanhaltende Wirtschaftskrise verantwortlich], für die
ausufernde Gewalt vor allem in den Großstädten, für die Arbeitslosigkeit.
Dies wird der PT-Regierung zwar nicht gerecht, ist aber ein wunder Punkt:
Eine Partei, die gerade die Armen hinter sich weiß, und trotz heftigem
medialem Gegenwind vier Präsidentschaftswahlen nacheinander gewann, muss in
der Lage sein, auf die Menschen zuzugehen, statt sie rechter Bauernfängerei
zu überlassen.
Laut Meinungsforschern war es just der Stimmenzuwachs in ärmeren Schichten,
[4][der Bolsonaro den deutlichen Sieg mit 46 Prozent im ersten Wahlgang
Anfang Oktober brachte]. Nur im verarmten Nordosten lag Haddad, der
Kandidat der Arbeiterpartei, unangefochten vorne. Im Rest des Landes und
gerade auch in den Armenvierteln großer Städte hatte der Ex-Militär
Bolsonaro die Nase vorn.
Bolsonaro macht keinen Hehl daraus, dass er sich als Kandidat der
Bessergestellten und der angeblich alleingelassenen Mittelschicht versteht.
Er plädiert für einen Einheitssteuersatz, hält die meisten Sozialprogramme
für überflüssig und orientiert sein Wirtschaftsprogramm an den Ratschlägen
von Unternehmensverbänden.
## Drohungen gegen politische Gegner
Kurz vor der Stichwahl am Sonntag gingen auch seine Fans auf die Straße, am
schicken Copacabana-Strand. Die Nationalfarben Grün und Gelb beherrschen
das Bild. Auf Transparenten und T-Shirts prangt das Motto seiner
Wahlkampagne „Brasilien über alles, Gott über alle“. Andere Sprüche wirk…
wie eine Warnung: „Stell dich drauf ein, bald ist Bolsonaro dran“. Er
selbst bläst auf Kundgebungen bereits zur Jagd auf seine Gegner. Er werde
Brasilien „von Linken und PT-Anhängern säubern“. Sein Kontrahent Haddad
werde ins Ausland gehen oder „[5][wie sein Idol Lula im Gefängnis landen]“.
Am Rand der Demonstration stehen einige von denen, die diese Schicksalswahl
voraussichtlich entscheiden werden. Sie sind eher konservativ und auf alle
Fälle PT-Gegner. „Mein Kandidat hat es nicht in den zweiten Wahlgang
geschafft. Ich wähle nun Bolsonaro, was soll ich anderes tun?“, sagt die
Bankangestellte Amelia Silva. Ja, es sei erschreckend, was der Bolsonaro
manchmal von sich gebe. „Aber wir müssen doch auch an die Wirtschaft
denken! Seit Bolsonaro in Führung liegt, sind die Börse und der Kurs der
Währung im Aufwind.“ Um das Ansehen Brasiliens unter einem solchen
Präsidenten macht sich Silva schon Sorgen. „Es ist eine schreckliche Wahl“,
murmelt sie und wendet sich ab.
Viele fragen sich, wie es kommt, dass in einem so großen und eigentlich
weltoffenen Land wie Brasilien plötzlich über 80 Millionen Menschen für
einen faschistoiden Politiker stimmen wollen. Enrique Douglas verlangsamt
seinen Schritt, nachdem er zuerst zügig von dem Aufzug fortkommen wollte.
„Brasilien ist nicht so, wie es von außen wirkt. Es ist ein zutiefst
rassistisches Land, in dem die Sklavenzeit bis heute fortwirkt.“ Dies sei
die Ursache für die extreme Ungleichheit und zugleich für eine Elite, die
Amok laufe, seitdem die Arbeiterpartei ihr die Macht aus den Händen nahm.
„Viele Pitbulls wurden von der Leine gelassen, um die alte Ordnung wieder
herzustellen. Doch die Pitbulls beginnen schon jetzt, ihre eigenen Herrchen
in die Wade zu beißen“, sinniert Douglas.
Douglas ist 42 Jahre alt, Grundschullehrer und lebt in der Rocinha, einer
der größten Favelas auf den Hügeln direkt am Rande der Reichenviertel. Ihn
überrascht nicht, dass Bolsonaro so viel Zulauf hat. „Seine Stimmen bekommt
er von drei Gruppen: zum einen von denjenigen, die genau wie er
erzkonservative Werte haben und diese mit Ausgrenzung und Gewalt
durchsetzen wollen.“ Die zweite Gruppe seien die Anhänger evangelikaler
Kirchen, die explizit zur Wahl Bolsonaros aufrufen und mit ihm ihre
Heilsversprechen verbinden. „Und dann noch die Uninformierten, die sich
durch seine Favoritenrolle blenden lassen, ihm seinen Sicherheitsdiskurs
abnehmen oder durch Fake News – ein in dieser Form völlig neues Phänomen in
Brasilien – beeinflusst werden.“
Diese drei Wählergruppen gebe es in allen Schichten, aber unterschiedlich
ausgeprägt. Überzeugte gibt es mehr in der Mittelschicht, evangelikale
Bolsonaro-Wähler mehr in den Armenvierteln, analysiert Douglas. „Und wenn
der Groll vieler Unentschiedener gegen die Arbeiterpartei bestehen bleibt,
heißt Brasiliens nächster Präsident Jair Messias Bolsonaro.“
Am Donnerstag sagte das Umfrageinstitut Datafolha nur noch 56 Prozent der
Stimmen für Bolsonaro voraus, ein Minus von drei Prozent innerhalb einer
Woche. Ein Wendepunkt, der vielleicht zu spät kommt – doch die Stimmung
scheint sich zu wandeln. Mehrere Politiker der Mitte wandten sich
inzwischen von Bolsonaro ab und werben für Stimmen gegen rechts. Auf den
Straßen wird um jede Stimme gerungen. Brasilien steht ein dramatisches
Wochenende bevor.
26 Oct 2018
## LINKS
[1] /Kampf-um-Lulas-Mehrheit/!5535424
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[3] /Wirtschaftskrise-in-Brasilien/!5387785
[4] /Praesidentschaftswahl-in-Brasilien/!5541947
[5] /Brasiliens-Ex-Praesident/!5501396
## AUTOREN
Andreas Behn
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