# taz.de -- Ermitteln gegen die Zeit: Mord verjährt nicht | |
> Wenn alte Mordfälle wieder aufgerollt werden, schlägt die Stunde der | |
> Kriminalpolizei. Sind die „Cold Cases“ ihre neue Paradedisziplin? | |
Bild: Polizisten durchsuchen das Grundstück, das dem mutmaßlichen Serientäte… | |
Auch nachdem sich Senior Detektive [1][Lilly Rush] einem Fall gewidmet hat, | |
landet er wieder bei den Akten. Diesmal aber steht meist der große | |
Schriftzug „Closed“ auf der Box, der markiert, dass der Fall endlich | |
abgeschlossen ist. Mit feinfühligen Gespräche mit Angehörigen der Opfer, | |
geschickten Befragungen der Zeugen, der Auswertung neuer Indizien hat Rush | |
in Philadelphia zahlreiche teils lange zurückliegende Kriminalfälle gelöst. | |
Zumindest, bis die TV-Produktion „Cold Case“ 2010 zu Ende ging. | |
Es ist zu einem Großteil diese US-Fernsehserie, die Ermittlungen dieser Art | |
bekannt gemacht hat. Als „Cold Cases“ werden auch im echten Leben | |
ungeklärte Fälle bezeichnet, bei denen ein dringender Verdacht auf ein | |
Tötungsdelikt besteht, das im Fall eines Mordes nicht verjährt, bei denen | |
die Strafverfolgungsbehörden die Akten aber geschlossen haben. | |
Vor allem neue Methoden bei der DNA-Analyse ermöglichen es heute, mit Hilfe | |
kleinster Spuren Ergebnisse zu erzielen. In staubigen Akten und in den | |
Tüten der Asservatenkammern schlummern neue Möglichkeiten und | |
Ermittlungsansätze. Bislang ist es die Regel, dass Mordermittler sich immer | |
mal wieder solche alten Akten vornehmen. Sobald aber ein aktueller Mord | |
geschieht, hat das Priorität. | |
Seit Ende 2016 kümmert sich in Hamburg eine eigene [2][Spezialeinheit] um | |
ungelöste Altfälle. Auch in anderen Bundesländern steht das Thema auf der | |
Tagesordnung. In Niedersachsen etwa hat die Polizei in 268 Tötungsdelikten | |
oder versuchten Tötungen, die länger als ein Jahr zurückliegen, bis heute | |
keinen Täter identifiziert. Bei 26 Vermissten gehen die Ermittler zudem von | |
Tötungen aus. Eine eigene Einheit beim Landeskriminalamt wie in Hamburg ist | |
in Niedersachsen allerdings nicht geplant. Stattdessen soll es für alte, | |
ungelöste Fälle eine Datenbank geben, die Ermittlern aus allen | |
Polizeidirektionen zugänglich ist. | |
## Filmreife Szenen | |
Filmreif, aber real, sind Szenen, die sich derzeit in Bremen bei | |
Ermittlungen zu einem Fall beobachten lassen, der 25 Jahre zurückliegt. Ein | |
[3][ganzer See] ist Anfang Oktober leergepumpt worden, 260 Meter lang, 80 | |
Meter breit, rund 35 Millionen Liter Wasser. Die Ermittler hoffen, im | |
Tietjensee die Leiche einer Frau zu finden, die verschwunden ist, ihr | |
Lebensgefährte steht deswegen derzeit vor Gericht. Doch lohnt sich das? Für | |
einen Fall von vor 25 Jahren? Andernorts konnten lang zurückliegende Taten | |
aufgeklärt werden, führten aber zu Tätern, die bereits verstorben oder | |
wegen anderer Morde längst eingesperrt sind. | |
Als Gericht sei man es dem Opfer und den Angehörigen schuldig, „alles | |
Menschenmögliche zu tun“, so hatte es in Bremen der Sprecher des | |
Landgerichts erklärt. Angeklagt sei immerhin ein Kapitalverbrechen. Ähnlich | |
beschreibt Steven Baack in Interviews, was ihn als Leiter der Hamburger | |
Cold-Case-Einheit antreibt: „Wir wollen den Tätern klar machen, dass sie | |
nie sicher sind – und den Opfern, dass wir sie nie vergessen.“ Das sagte er | |
dem NDR, ein paar Monate, nachdem seine Einheit ihre Arbeit begann. | |
Geht es also um die Opfer und die Angehörigen und das Ergreifen eines | |
gefährlichen Täters, wie es Ermittler und Gericht betonen? Oder geht es | |
auch allgemeiner um Abschreckung anderer, potenzieller Täter und das | |
gesellschaftliche Vertrauen in den Rechtsstaat? Die meisten Morde seien | |
nicht geplant, sondern geschehen spontan aus dem Affekt, erklären | |
Kriminalisten. Kann Abschreckung da greifen? Andererseits gehört zu | |
Cold-Case-Ermittlungen, das sieht man am Bremer Tietjensee, die öffentliche | |
Inszenierung. Termine für Pressebesichtigungen begleiteten das Abpumpen des | |
Wassers, der Fall füllte tagelang die Schlagzeilen. Auch die Arbeit der | |
jungen Hamburger Cold-Case-Einheit ist eines der beliebtesten Themen der | |
Gazetten und Radiostationen. | |
Angesichts der in Deutschland herrschenden Idee über den Sinn und Zweck der | |
Bestrafung kann man wohl sagen: Es geht mindestens um beides. Die | |
Straftheorie unterscheidet zwischen der sogenannten Spezial- und der | |
Generalprävention: Spezialprävention, um den Täter von weiteren Taten | |
abzuhalten und ihn womöglich zur Besserung zu erziehen; Generalprävention, | |
um andere von ähnlichen Taten abzuschrecken und das Vertrauen in den | |
Rechtsstaat zu stärken. Hinzu tritt ein dritter Aspekt: die Gerechtigkeit, | |
metaphysisch, ohne sozialtechnische Funktion. Wo es aber um Gerechtigkeit | |
geht, darauf verweisen Rechtskritiker, heiligt der Zweck schnell die | |
Mittel. Die Gefahr besteht, die rechtsstaatliche Grenzen zu strapazieren. | |
Vermutlich war es der [4][Übereifer der Cold-Case-Ermittler], der in | |
Hamburg vor ein paar Tagen zu einem Freispruch führte. Nach 38 Jahren stand | |
ein Mann wegen versuchten Mordes vor Gericht. Am 1. November 1980 soll er | |
in Hamburg-Steilshoop mehrfach auf ein Mädchen eingestochen, sie dann in | |
ein Gebüsch gezerrt und versucht haben, sie zu vergewaltigen. Bei den | |
neuerlichen Ermittlungen aber lief anscheinend einiges schief. In der | |
Begründung des Freispruchs fand die Richterin deutliche Worte auch zur | |
Arbeit der Cold-Case-Einheit, wie der Spiegel berichtet. Vieles habe darauf | |
hingedeutet, dass das Opfer, der Angeklagte und auch der wichtigste Zeuge | |
von den Ermittlern „höchst suggestiv“ befragt und „gegebenenfalls sogar | |
getäuscht“ wurden. „Hätten wir zu Beginn gewusst, was wir heute wissen, | |
hätten wir das Verfahren gar nicht eröffnet“, so die Richterin. | |
Auch Richter Helmut Kellermann, der in Bremen das Verfahren im Zusammenhang | |
mit dem abgepumptem Tietjensee führt, hatte die Eröffnung des Prozesses | |
zunächst abgelehnt. Erst das Oberverwaltungsgericht zwang das Landgericht | |
zu verhandeln. Wie schwierig das nun ist, zeigte sich vor ein paar Tagen | |
bei der Befragung des Mannes, der 1994 als Junge den Tietjensee überhaupt | |
erst in den Fokus rückte, weil er dort eine Tüte mit Sachen der | |
Verschwundenen fand. Kaum noch kann er sich erinnern, was überhaupt noch in | |
der Tüte war, die er damals aus dem See fischte und die auf ein Verbrechen | |
hindeuteten. Rote Pumps? Eine Zahnbürste der Marke „Oral B“? Ein | |
Lippenstift? Auch ob die Vermisste womöglich nach ihrem Verschwinden noch | |
in einer Disko gesehen wurde, sie demnach abgehauen sein könnte und es zu | |
gar keinem Verbrechen kam? Auf Zeugen zu setzen, ist nach so langer Zeit | |
schwierig. Die reale Welt kennt keine Rückblenden. | |
Verteidiger Horst Wesemann, der den angeklagten ehemaligen Lebensgefährten | |
vertritt, drängt auf eine Beschleunigung. Er verweist auf Artikel 6 der | |
Europäischen Menschenrechtskonvention, in dem es um das Recht auf ein | |
faires Verfahren geht, und in dem es auch heißt, dass dieses „innerhalb | |
angemessener Frist“ verhandelt werden müsse. | |
Jasper von Schlieffen, der Geschäftsführer des Organisationsbüros der | |
Strafverteidigervereinigungen, erklärt, dass Cold-Case-Verfahren auch für | |
die Verteidigung eine Herausforderung sind. „Es ist extrem schwierig, nach | |
40 Jahren noch ein Alibi zu beweisen“, sagt er. Zeugen seien verstorben, | |
Erinnerungen verblasst. In anderen Schwurgerichtsverfahren sei die | |
Schuldfähigkeit ein Standardthema, also die Frage, ob jemand alkoholisiert, | |
depressiv oder psychotisch war. „Wenn man keine ärztlichen Unterlagen mehr | |
hat, kann man eine auf den Tatzeitpunkt bezogene Einschränkung der | |
Schuldfähigkeit aber nicht mehr feststellen.“ | |
## Hilfe für zu Unrecht Verurteilte | |
Gleichwohl zweifelt auch von Schlieffen nicht am Sinn von | |
Cold-Case-Ermittlungen. Er wünscht sich aber eine Ausweitung in eine andere | |
Richtung wie etwa beim [5][Innocence Project] in den USA. Diese NGO | |
versucht, vor allem auf Grundlage neuer DNA-Analyse-Techniken, | |
Justizirrtümer aufzuklären. Bei über 250 Menschen wurde bereits die | |
Unschuld bewiesen, mehrere Todesstrafen aufgehoben. „So etwas gibt es in | |
Deutschland noch nicht“, sagt von Schlieffen. „Kein Mensch kümmert sich um | |
jemanden, der verurteilt ist und sitzt.“ Sich eigenständig darum zu | |
kümmern, sei extrem aufwendig und teuer – und man bräuchte Zugriff auf | |
bereits gesicherte Spuren. | |
Irrtümer jedoch kommen auch zustande, wenn Menschen in Verdacht geraten, | |
sie wegen ausbleibender Ermittlungen aber ihre Unschuld nie beweisen | |
können. So war es etwa auch im Fall von Birgit Meier aus Lüneburg. Sie | |
verschwand 1989, seit 1994 ruhten die Ermittlungen. Die Polizei | |
verdächtigte zunächst ihren Ehemann. Dieser habe sie finanzieller Vorteile | |
wegen umgebracht, so der Verdacht, es lief ein Scheidungsverfahren. „Die | |
Leute haben seitdem über ihn getuschelt“, erklärt [6][Wolfgang Sielaff]. Er | |
ist der Bruder von Birgit Meier. „Mein Schwager ist 25 Jahre als Mörder | |
seiner Frau herumgelaufen. Und er ist bis heute nicht rehabilitiert.“ | |
Sielaff ist einer, der ohne Wenn und Aber dafür kämpft, dass | |
Cold-Case-Einheiten ausgebaut werden. Hört man ihm zu, ist es schwer, sich | |
seinen Argumenten zu entziehen. Er war lange Landesvorsitzender der | |
Opferschutz-Initiative „Weißer Ring“ in Hamburg, davor Chef des Hamburger | |
Landeskriminalamts. Mit der Ungewissheit um das Schicksal seiner eigenen | |
Schwester musste er jahrelang leben. | |
Es ist Sielaff zu verdanken, dass der Mord an seiner Schwester jetzt | |
aufgeklärt werden kann. Nach seiner Pensionierung ermittelte er privat, | |
zusammen mit einem kleinen Team an Freiwilligen, darunter der Hamburger | |
Rechtsmediziner Klaus Püschel. Sielaffs Kontakte halfen ihm. Im Oktober | |
2017 fand er die Leiche seiner Schwester in einer Grube auf dem Grundstück | |
des mutmaßlichen „Göhrde-Mörders“ Kurt-Werner Wichmann. | |
## Leben aus den Fugen | |
„Wenn in eine Familie ein Verbrechen einschlägt, gerät das ganze Leben in | |
Sekundenbruchteilen aus den Fugen, nichts bleibt mehr wie es einmal war“, | |
erklärt Sielaff. „Das haben auch wir erleben müssen.“ | |
Er selbst sei nach dem Verschwinden seiner Schwester in seinem Beruf stark | |
gefordert gewesen, das habe ihn abgelenkt. Seine Mutter hingegen habe | |
psychisch stark unter der unaufgeklärten Tat gelitten und sei darüber | |
gestorben. „Sie hat bis zuletzt gehofft, dass die Tür aufgeht und ihre | |
Tochter eintritt.“ | |
Die Verarbeitung eines Verbrechens in der Familie sei anders, als etwa nach | |
dem Verlust eines Angehörigen durch einen Unfall. „Beim Unfalltod eines | |
Angehörigen gibt es eher die Möglichkeit, mit dem Geschehen abzuschließen.“ | |
Auch hier gebe es kein Vergessen, aber man wisse, was passiert ist. „Es | |
gibt ein Grab, einen Ort der Trauer“, so Sielaff. Der Fall seiner Schwester | |
unterscheide sich insofern noch von anderen Mordfällen, weil sie über ein | |
Vierteljahrhundert spurlos verschwunden war. | |
Dass es viel Aufwand sei, es bei der Polizei zu wenig Personal und | |
Ressourcen geben könnte, um lang zurückliegende Fälle zu bearbeiten? Diese | |
Begründung könne nicht akzeptiert werden, so Sielaff. „Schließlich geht es | |
um die schwersten Verbrechen, die unser Strafgesetzbuch kennt. Die | |
Angehörigen und Hinterbliebenen haben einen Anspruch auf effektive | |
Strafverfolgung. Das hat das Bundesverfassungsgericht schon vor Jahren | |
festgestellt.“ Und darauf besteht Sielaff auch, wenn der verdächtige Täter | |
bereits verstorben ist, wie im Fall seiner Schwester. | |
## Ordnende Funktion | |
Auch der pensionierte Polizist verweist auf die gesellschaftlich ordnende | |
Funktion, die mit der Aufklärung ungelöster Fälle zusammenhängt. Und die | |
Ohnmacht der Betroffenen könne zur Staatsverdrossenheit führen. Vor allem | |
aber verweist er auf den Frust, die Verzweiflung und die Wut der | |
Betroffenen, wenn schwerste unaufgeklärte Verbrechen vom Staat nicht | |
wahrgenommen und beachtet werden. | |
Natürlich wühle es wieder auf, wenn ein Verfahren erneut aufgenommen wird. | |
„Es dominiert aber die Dankbarkeit darüber, dass sich wieder um den Fall | |
gekümmert wird. Das ist den Betroffenen das Wichtigste, obwohl sie auch | |
hoffen, dass der Fall doch noch geklärt wird.“ | |
Wer Sielaff zuhört, kann erahnen, dass unaufgeklärte Taten im Fernsehen der | |
Stoff für Krimis sind, im echten Leben für die Betroffenen aber der Horror. | |
Mehr über den Umgang der Polizei mit unaufgeklärten Mordfällen finden sie | |
in der gedruckten Wochenendausgabe der taz.nord oder [7][hier]. | |
26 Oct 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.imdb.com/title/tt0368479/characters/nm0606700 | |
[2] https://www.mopo.de/hamburg/polizei/soko--cold-cases--er-rollt-343-mordfael… | |
[3] https://www.butenunbinnen.de/videos/tietjensee-102.html | |
[4] https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Cold-Case-Fall-Prozess-endet-mit-Fre… | |
[5] https://www.innocenceproject.org/ | |
[6] https://www.zeit.de/2017/42/wolfgang-sielaf-ex-lka-chef-mord-schwester | |
[7] /!114771/ | |
## AUTOREN | |
Jean-Philipp Baeck | |
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