# taz.de -- Deutscher Buchpreis: Kein Darling des Betriebs | |
> Inger-Maria Mahlke gewinnt mit ihrem Roman „Archipel“ den Deutschen | |
> Buchpreis. Darin erzählt sie die Geschichte dreier Familien in Teneriffa. | |
Bild: Bei der Entgegennahme des Preises dankte Mahlke ausdrücklich ihrer Ex-Ve… | |
Ein Roman, der fast hundert Jahre, fünf Generationen, das Leben dreier | |
Familien, Honoratioren, Gegenspieler, Hausangestellter und den ganzen | |
gesellschaftlichen Kosmos einer ja nun nicht kleinen Insel umfasst, mag man | |
sich als breites, ausufernd erzähltes Epos vorstellen. Aber so ist | |
„Archipel“ von Inger-Maria Mahlke eben gar nicht. Das Buch hat eher etwas | |
Kleinteiliges. Es ist aus vielen kleinen Puzzlesteinen zusammengesetzt, das | |
kann ein Blick sein, ein Versäumnis der Gastgeberin auf einem Bankett, die | |
Eidechsen, die immer wieder durch dieses Buch huschen. | |
Teneriffa also. Ganz konkret die vergangenen hundert Jahre auf dieser Insel | |
(auf der Inger-Maria Mahlke Verwandtschaft hat und auf der sie schon als | |
Kind häufig war), aber natürlich auch als Brennglas europäischer Geschichte | |
und menschlicher Schicksale. Es sind schon die großen, auch historisch | |
bedeutsamen Dinge, die in diesem Roman verwandelt werden. | |
Der Putsch Francos kommt vor, die Entkolonialisierung der Westsahara und | |
die allmähliche Umgestaltung Teneriffas zur Urlaubsinsel und damit zum | |
Herrschaftsraum der Bettenburgen aus Beton. Auch innerhalb der Figuren gibt | |
es die großen Drama, Liebe, Scheitern, Absterben aller Ambitionen, ein | |
besonderes Leben zu führen. Aber vieles von dem ist indirekt erzählt, | |
selbst zentral Wichtiges wie der Tod einer Mutter. | |
Zusammen mit dem einschneidenden dramaturgischen Kniff, die Geschichte | |
rückwärts zu beschreiben, sie im Jahr 2015 beginnen zu lassen und dann in | |
vielen Schritten jeweils die Vorgeschichte aufleben zu lassen, bis die | |
Handlung im Jahr 1919 endet (beziehungsweise anfängt), ergibt das einen | |
eigenwilligen Effekt. Die Handlung, obwohl sie doch feststeht, hat nichts | |
Zwangsläufiges. Immer wieder leuchten plötzlich Details auf, mit denen man | |
nicht gerechnet hat. | |
## Aha-Erlebnisse | |
Die Vergangenheit – und damit die Lebensgeschichte der Figuren – scheint | |
sich auch immer wieder neu zusammenzusetzen, je nachdem, von welcher Warte | |
aus sie geschildert wird. Die einzelnen Episoden werden von Inger-Maria | |
Mahlke im Präsens erzählt, in einer Perspektive, die direkte Anteilnahme, | |
aber auch die Enge von Unausweichlichkeit vermittelt. In die Vergangenheit | |
hinein aber tun sich in diesem Buch Räume auf. Es hätte immer auch anders | |
kommen können. | |
„Archipel“ öffnet sich einem zunächst nicht ganz bereitwillig. Grade am | |
Anfang muss man sich als Leser, als Leserin seinen Weg durch ein Dickicht | |
aus Details bahnen. Man muss sich diesen Roman sowieso teilweise | |
erarbeiten, mal vor- oder zurückblättern, in das Glossar schauen, in dem | |
spanische Besonderheiten oder historische Details erläutert werden. Je | |
tiefer man dabei in seinem Lesen geht, desto mehr spürt man die Disziplin | |
und die Sorgfalt, mit der Inger-Maria Mahlke ihre Geschichten erzählt hat. | |
Und man wird mit Aha-Erlebnissen und vielen wunderbar direkten | |
Situationsschilderungen belohnt. Toll zum Beispiel, wie die Autorin in | |
knappen Sätzen Regen aufkommen lassen kann oder wie sie durch kleine, | |
gezielte Umstellungen in ihren Sätzen Effekte erzielt: „Nachts, die | |
Schmerzen kommen nachts, egal, wo sie sich hinlegt.“ | |
Man kann sich auch deshalb [1][über diesen Deutschen Buchpreis des Jahres | |
2018] freuen, weil damit ein Autorinnenleben gewürdigt wird, das in | |
schönster Eigensinnigkeit und offenbar jenseits literarischer Moden | |
voranschreitet. Inger-Maria Mahlke, 1977 geboren, begann mit Geschichten | |
aus dem – damals noch ziemlich abgerockten – Berliner Bezirk Neukölln, in | |
dem sie auch selbst lebt. Das ließ sich noch unter Berlin-Roman verbuchen, | |
hatte er bereits eine eigene Kälte in den Beobachtungen. | |
## Literatur ist kein Joghurt | |
In „Wie ihr wollt“ schilderte sie vor vier Jahren das Schicksal der | |
historisch verbürgten Mary Grey, einer kleinwüchsigen Cousine Elisabeths | |
I., in den wilden Elisabethanischen Zeiten als zähes Warten auf ein freies | |
Leben. Und nun ein rückwärts erzähltes Geschichtspanorama auf Teneriffa | |
also. Offensichtlich hat sich diese Autorin vorgenommen, bei jedem Buch | |
etwas ganz anderes zu machen. Ein Darling des Betriebs ist sie ganz gewiss | |
nicht. | |
Bei der Entgegennahme des Buchpreises dankte sie ausdrücklich ihrer | |
[2][Verlegerin Barbara Laugwitz, die nun nicht mehr ihre Verlegerin sein | |
soll.] Die Vorgänge beim Rowohlt-Verlag haben Inger-Maria Mahlke getroffen, | |
wohl auch empört, was sie am Montagabend im Frankfurter Römer in das schön | |
schräge Bild brachte, dass Literatur kein Joghurt sei, den man beliebig | |
herstellen kann. | |
[3][Die Offenen Briefe vieler Rowohlt-AutorInnen an den | |
Holtzbrinck-Geschäftsführer Joerg Pfuhl,] der Laugwitz durch Florian Illies | |
ersetzen will, hatte Mahlke in den vergangenen Wochen aus Überzeugung | |
unterschrieben. In ihrer kleinen, wohl improvisierten Dankesrede würdigte | |
sie vor allem den Arbeitseinsatz und das Engagement ihrer Exverlegerin. | |
Dass Barbara Laugwitz in vielem auch ein glückliches Händchen hatte, wie | |
diese Auszeichnung ja nun auch zeigt, konnte Mahlke selbst ja nicht | |
aussprechen. | |
9 Oct 2018 | |
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[3] /Offener-Brief-der-Rowohlt-Autoren/!5535395 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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