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# taz.de -- Regisseur in Russland vor Gericht: Serebrennikow drohen 10 Jahre Ha…
> Der kremlkritische Regisseur Kirill Serebrennikow steht seit 15 Monaten
> unter Hausarrest. Bisher gab es einen Prozesstag, es werden viele folgen.
Bild: Kirill Serebrennikow geht am ersten Prozesstag am 17. Oktober zum Stadtge…
Moskau taz | Vater Semjon schluchzt. Einmal am Tag spreche er am Telefon
mit seinem Sohn. Kirill Serebrennikow aus Rostow am Don war anderthalb
Jahrzehnte lang Russlands gefeiertster Regisseur. Über die Landesgrenzen
hinaus bekannt, begehrt und zigmal prämiert. Kirill Serebrennikow
verkörperte ein junges, gegen den klassischen Strich gebürstetes Theater.
[1][Seit August 2017 steht der 49-Jährige unter Hausarrest], in Moskau
nicht weit entfernt vom [2][Gogol-Zentrum, das er seit 2012 leitete]. Eine
Experimentierbühne, die keine Grenzen der Genres kannte und zuließ.
Serebrennikow und vier seiner Mitstreiterinnen wird nun der Prozess
gemacht. 15 Monate hat die Prozessvorbereitung gedauert. Mit ihm sind
Finanzdirektor Alexei Malobrodski, Sophie Apfelbaum vom Kulturministerium
und Theaterdirektor Juri Itin angeklagt. Serebrennikow drohen zehn Jahre
Haft, sollte er der Veruntreuung für schuldig befunden werden. Das
Eingreifen der Justiz ist bereits ein Urteil. In mehr als 99 Prozent der
Verfahren in Russland fällt ein Schuldspruch. Schon der Hausarrest gleicht
einer Isolationshaft. Keine Kontakte, kein Telefon, kein Internet, nur ein
Spaziergang am Tag ist erlaubt.
Vater Semjon wünscht dem Sohn mit tränenerstickter Stimme „Mut und Kraft,
durchzuhalten“. Beim letzten Wort wird er lauter. Er sagt es in einem Film,
den eine befreundete Journalistin im Februar in Rostow drehte. Seit sechs
Monaten saß der Regisseur bereits im Hausarrest. Lediglich die
Besprechungen der Stücke, Filme und Aufführungen, die andere Leute
weiterführten, erinnerten an den Starregisseur.
Im August 2017 saß er am Filmset in Sankt Petersburg und wurde verhaftet.
Er drehte „Leto“ (Sommer), eine Hommage an den russischen Rocksänger Viktor
Zoi in den 1980er Jahren. Das war eine Zeit des Aufbruchs für den jungen
Serebrennikow und die Gesellschaft in der Sowjetunion.
## Als Jugendlicher kein Revolutionär
Kirill Serebrennikow durfte im Elternhaus nicht weinen. Semjon
Serebrennikow hält sich nicht an die eigene Erziehungsmethode. Er ahnt, es
könnte mehr auf dem Spiel stehen. Im Februar ist auch Irina, Semjons
Ehefrau und Kirills Mutter, gestorben. Kirill durfte wegen des Arrests
nicht nach Rostow. Er verabschiedete sich von der Urne, die nach Moskau
überführt worden war.
Kirill ist ein stoischer Mensch, er hält an sich. Auch nach der Schule, als
er in Rostow Physik studierte und den Wunsch des Vaters erfüllte. „Bis
jetzt habe ich gemacht, was ihr wollt, jetzt mach’ ich, was ich möchte“,
sagt er am Tag des Examens zu den Eltern und geht zum Theater in Rostow.
Dort erhält er bald einen bekannten russischen Fernsehpreis.
Als Jugendlicher war er kein Revolutionär. Sein Ziel hat er aber nie aus
den Augen verloren. Kirill Serebrennikow hat einen jüdischen Hintergrund,
wie alle anderen Mitangeklagten in dem Prozess. Theaterdirektor Juri Itin,
die Theatermanagerin Sophia Apfelbaum und der Finanzchef und Produzent
Alexei Malobrodski. Einige russische Zeitungen vermuten einen Zusammenhang.
In Russland herrscht jedoch kein staatlicher Antisemitismus. Wladimir Putin
verwehrte sich gegen Antisemitismus. Dennoch grassieren antisemitische
Vorurteile in der Gesellschaft. Tiefsitzende. Auch solche Fragen kommen
auf, wenn Beobachter nach Gründen der Verhaftungen suchen. Nur wenige
glauben an den offiziellen Vorwurf der Veruntreuung.
Der ehemalige Kulturminister, Michail Schwidkoi, hält die Anklage wegen
Entwendung und Unterschlagung von mehr als 3 Millionen Euro zwischen 2011
und 2014 für ziemlichen Unfug. Dass Sophia Apfelbaum als Abteilungsleiterin
im Kulturministerium Gelder bewilligte, die Kollegen am Theater über
Scheinfirmen in eigene Taschen steckten, klingt nach russischen
Gepflogenheiten nicht völlig aus der Luft gegriffen, aber in diesem Fall
doch eher haltlos.
Die Mannschaft um Serebrennikow ist theater- und kunstversessen, sagt
Schwidkoi. Kirill sei hoch talentiert und höchst authentisch. Der
Ex-Minister will sagen: Mit Geld gehen diese Kreise nicht so sorgfältig um,
wie es in Russland eigentlich üblich sein sollte. Denn die gesamte
Theaterszene ist vom Staat und dessen Subventionierungen abhängig. Rund
siebzig Prozent Förderung sollen es sein.
## Talent und die Putin-Jugend
Das bringt die Empfänger leicht in Bedrängnis. Wer den Theaterbetrieb
aufrecht erhält, braucht Geld. Auch wenn nur Toilettenpapier beschafft
werden muss. Die Gelder stammen vorübergehend aus anderen Töpfen. All das
ist zwar gesetzlich geregelt. Gesetze, die sich aber nicht problemlos
einhalten lassen, sagt ein erfahrener Manager. Dieses Prinzip wirkt an
vielen Stellen zwischen Staat und Bürgern. Sie werden so zu Geiseln
gemacht. „Daraus entsteht die Haltung – bloß nicht auffallen.“
Serebrennikow, der Theatermensch, musste jedoch auffallen. Nicht unbedingt
wegen des Staates. Spätestens in den Jahren der Interimsherrschaft
Präsident Dmitri Medwedjews (2008–2012) stieg er zum Avantgardekünstler des
ersten Putin-Jahrzehnts auf. Dmitri Medwedjew beschwor die Modernisierung,
suchte nach Innovationen wie dem Wissenschaftshub Skolkowo, das dem Silicon
Valley in Kalifornien gleichkommen sollte. Russland sollte moderner werden,
Künstler aus aller Welt anlocken. Moskau schlug stadtplanerisch
vorübergehend neue Wege ein. Überall hallte es: Innovation, Modernisierung!
Einer der aktivsten Förderer war Putins Berater Wladislaw Surkow. Er war
für die Erfindung der Putin-Jugend, „Naschi“, die Unseren, zuständig, und
entwarf das Konzept der „souveränen Demokratie“ für Russland. Er war ein
Designer, der das verkrustete Reich in eine hippe Hülle stecken wollte. Und
er war kein Einfaltspinsel, im Unterschied zu vielen Vertrauten um den
Kremlchef wusste er, was er machte.
Surkow war Autodidakt, Schöngeist und sprühender Kopf, der alles las und
zusammenrührte. Er hatte schon einen Roman, „okolo nullja“, verfasst, der
sich den ersten Jahren der Putin-Zeit widmete. Unter Pseudonym allerdings.
Vor allem war er ein prinzipienloser Machtmensch. Der Zynismus der
Hauptfigur des Romans gerann unter Serebrennikows Inszenierung zu
Selbstzweifel und Ekel. Surkow hatte ihn gebeten, die Aufführung zu
übernehmen. Serebrennikow passte zur Vision Medwedjews, der ein kulturell
offeneres und experimentierendes Russland schaffen wollte. Wladislaw Surkow
und die Stadt Moskau brachten den Entwurf auf die Bühne. Die Zuschauer aus
den Zirkeln der Macht verließen das Ensemble, sobald sie sich selbst
erkannten.
## Der Wind hat sich gedreht
Serebrennikow wurde zum Chef des Gogol-Theaters ernannt. Eine traurige
Bühne, die die Hälfte des Zuschauerraums verbarrikadierte, weil kaum noch
Zuschauer kamen. Der neue Direktor entließ die alte Mannschaft. Parallel
entstand die „Platforma“, die alle Genres im Theater zusammenführte: Musik,
Tanz, Sprechbühne, Medien sowie endlose Lektionen und Diskussionen bot das
neue Gogol-Zentrum. Das frühere Ensemble protestierte, demonstrierte und
suchte Gleichgesinnte. Hatte der neue Direktor überhaupt ein Diplom?
Natürlich nicht! Für diese Kritiker gehörte er zu den Zerstörern der
russischen Theatertradition.
Drei Jahre hielt sich die „Platforma“. 2014 war endgültig Schluss. Auch der
Wind hatte sich draußen gedreht. Nach der turbulenten Reinthronisierung
Wladimir Putins 2012 als Präsident war nicht mehr von Innovation die Rede.
Tradition avancierte zum Schlagwort, vertreten durch Kirche, Armee und
Familie. Zusammengestaut in einem aggressiven Nationalismus, der
Kleinkinder in Uniformen zwängt.
Nach Krimbesetzung und Einmarsch im Donbass geriet das
modernisierungsbereite Russland ins Hintertreffen. Auch Surkow verlor das
Interesse. Er wurde von Wladimir Putin als Sonderbeauftragter in die
besetzten Gebiete geschickt. Ultrakonservative wie der Kulturminister
Wladimir Medinski und der orthodoxe Bischof Tichon, angeblich Beichtvater
Putins, kümmern sich seither um Russlands Zukunft.
Marina Dawydowa ist Russlands bekannteste Theaterkritikerin. Sie will
Serebrennikow noch gewarnt haben, der Macht nicht so nahe zu kommen. „Wir
sind nicht so eng miteinander“, soll er abgewunken haben. Die Zeit der
Öffnung werde nicht lange anhalten. Auch nach der Revolution in den 1920er
Jahren blühte die Avantgarde nur kurz auf, so Dawydowa. Dann wurde Stalin
Regisseur. Kirill hätte die Warnung seines Vaters Semjon Serebrennikow
wahrscheinlich in den Wind geschlagen.
24 Oct 2018
## LINKS
[1] /Regisseur-Serebrennikow-festgenommen/!5440821
[2] /Moskauer-Gogol-Theater-in-Berlin/!5493161
## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
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