Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kolumne So nicht: Klassifizierung des Feinds
> „Bürgerlich“ hat als Kampfbegriff von links ausgedient. Die Rechten
> sollten ihn nicht als alleinige Waffe einsetzen können.
Bild: Auch Arbeiter und Angestellte sollten sich Äpfel von Streuobstwiesen lei…
Fast unbemerkt hat das Attribut „bürgerlich“ vor nicht allzulanger Zeit
seine Funktion als Kampfbegriff und Abgrenzungsmerkmal eingebüßt. Wenn
jemand von links jemanden als bürgerlich bezeichnete, dann hieß das
meistens nichts Gutes. In der Blattkritik der taz war vor einigen Jahren
ein Feuilletonist der FAZ zu Gast, der bekannt ist für seine dem Papst sehr
ähnliche Haltung zur Abtreibung.
Dieser Gast hatte sich den Spaß gemacht, in den letzten Ausgaben der taz
nach dem Wörtchen bürgerlich zu suchen und zu bemerken, dass es zwar
seltener werde, aber trotzdem noch hin und wieder vorkomme: das Attribut
bürgerlich als Klassifizierung des Feinds. [1][Der Aushilfshausmeister der
taz] bietet seit Jahren in einem Nachwuchsworkshop folgenden Kurs an: „Wie
die taz wurde, was sie nicht werden sollte“. Ich hab den Kurs nie besucht,
aber sicher ist das Wörtchen „was“ eine elegante Lösung und ein gutes
Versteck für das, was die tazler früher mal „bürgerlich“ genannt hätten.
Bürgerlich wurde und wird so irre diffus verwendet, wie es sich für einen
ordentlichen Kampfbegriff nunmal gehört. Von links bezeichnete man damit
eine Mischung aus Doppelmoral, Opportunismus. Konservatismus und
Kleinkariertheit. Von rechts meinte man damit Menschen ohne Geldsorgen und
größere Fragen an die Machthaber. Mittlerweile reden wir aber gar nicht
mehr von Verbürgerlichung, sondern beispielsweise von Gentrifizierung.
Warum sich der englische Begriff durchgesetzt hat? Ich vermute mal, weil er
noch diffuser als „Verbürgerlichung“ ist und weil sich ein Begriff mit
Migrationshintergrund besser für plakative Zwecken eignet. Jedenfalls
scheint er besser geeignet zu sein als der Begriff Verbürgerlichung, der
vom Einsatz der Vorgängerrebellen in mindestens zwei Generationen derart
ausgeleiert ist, dass er niemanden mehr auf die Straße, die Barrikaden oder
in die Anwohnerinitiative treibt.
## Update der Etymologie
Markus Söder schloss die Grünen als Koalitionspartner aus, [2][weil er eine
„bürgerliche Koalition“ vorzieht.] Hätte er diesen Begriff vor dem Wahltag
genannt, es hätte ihn wahrscheinlich nochmal 5 Prozent gekostet.
Ausgerechnet die Grünen – das weiß mittlerweile auch jeder CSUler – sind …
ihrer Mitglieder- und Anhängerschaft [3][so homogen bürgerlich wie kaum
eine andere Partei:] Ihre Wähler haben mindestens Abitur, einen gut
bezahlten Job, Familie, Bahncard, Umweltbewusstsein und sind
zivilgesellschaftlich involviert.
Ausgerechnet die Partei, die Bürgerschreck sein will, wurde von der CSU
bzw. Herrn Dobrindt am bayerischen Wahlabend [4][als bürgerliche Partei
eingeordnet,] ausgerechnet also jener Fraktion der Gesellschaft, die der
Meinung ist, den bestehenden Staat mit seinen Gesetzen und Institutionen zu
destabilisieren zu müssen. Falls jemand beim nächsten Interview mit Herrn
Söder dran denkt: Bitte mal nachfragen, was an den Grünen er für nicht
bürgerlich hält.
Nicht, dass man sich von seiner Erklärung ein Update der Etymologie des
Begriffs erhoffen könnte. Schön wäre aber schon, wenn man eine Antwort
darauf bekäme, was daran bürgerlich ist, Geflüchtete in ihrer Menschenwürde
zu kränken, Autobahnen statt Arbeiter zu bezahlen und Raumfahrtprogramme
auszubauen statt Wohnraum. „Bürgerlich“ hat als Kampfbegriff von links
lange ausgedient und das ist auch gut so.
Denn die Attribute, die man mit dem Bürgerlichen verbindet, sind nicht alle
nur schlecht. Auch Arbeiter und Angestellte sollten sorgenfrei und
politisch aufgeklärt leben, in sanierten Lofts und Stadtvillen wohnen und
sich Streuobstwiesenobst leisten können. Es wäre vielleicht besser, sich
das Attribut „bürgerlich“ wieder zurückzuholen, bevor die Rechten es als
ihre alleinige Waffe einsetzen können.
23 Oct 2018
## LINKS
[1] https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/
[2] /Debatte-Bayern/!5539610
[3] /Hoehenflug-der-Gruenen/!5531364
[4] https://www.sueddeutsche.de/medien/maybrit-illner-afd-dobrindt-habeck-1.417…
## AUTOREN
Doris Akrap
## TAGS
Bürgerliche Mitte
Alexander Dobrindt
Rechte
FAZ
Markus Söder
Helmut Höge
Bahn AG
Grüne Bayern
Landtagswahl Bayern
Bayernwahl
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kolumne So nicht: Petition gegen Rotznasenhochzieher
Die Bahn schafft die Vollkornschnitte ab. Aber unternimmt nichts gegen
Rotznasehochzieher. Da muss dringend was getan werden.
Nach dem Bayern-Wahlerfolg der Grünen: Alles ist etwas too much
Die Grünen sind im Höhenflug. Aber was fangen sie damit an? Die taz
begleitet Katharina Schulze und Annalena Baerbock.
Kulturrevolution im Freistaat: Bayern sind anders, sowieso
Wer den Freistaat kennt, wundert sich nicht über das Wahlergebnis: In
Bayern hat über die Jahrzehnte eine leise Revolution stattgefunden.
Freie-Wähler-Chef über Bayernwahl: „Die CSU muss mit uns regieren“
Hubert Aiwanger rechnet fest damit, künftig der zweite Mann im Freistaat zu
werden. Markus Söder werde ihm bestimmt ein Koalitionsangebot unterbreiten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.