# taz.de -- Museumsschau mit Street Photography: In der Upper East Side | |
> Die Straße als Theater und Schlachtfeld: Die große Werkschau der New | |
> Yorker Fotografin Helen Levitt in der Albertina in Wien. | |
Bild: Ausschnitt aus Helen Levitt, New York, 1973 | |
Eine zierliche Frau mit Hut, der schlanke Hals umrahmt von einem | |
Pelzkragen, der Blick im Nirgendwo verloren. Die 1938 wahrscheinlich in | |
einem New Yorker Vorortzug entstandene Aufnahme zeigt „die berühmteste und | |
zugleich unbekannteste Fotografin ihrer Zeit“, wie sie der US-amerikanische | |
Poet und Kulturkritiker David Levi Strauss beschrieb. | |
Die 1913 geborene Fotokünstlerin begründete ihren Ruf in der ersten Hälfte | |
des vergangenen Jahrhunderts, obwohl sie über ihre Heimatstadt kaum | |
hinauskam. Über das Leben der Helen Levitt weiß man wenig. Ihr Vorbild war | |
der große Franzose Henri Cartier-Bresson, dessen Methode, zufällig | |
vorgefundene Szenen intuitiv zu erfassen und in spannungsreichen | |
Kompositionen festzuhalten, sie nachhaltig beeinflusste. Publiziert wurden | |
ihre Bilder zunächst in surrealistischen Zeitschriften. | |
Die Weltwirtschaftskrise ist der historische Hintergrund, die Straßen der | |
Armenviertel von Manhattan der Schauplatz für die frühen Fotografien von | |
Helen Levitt, mit denen sie in Spanish Harlem und der Upper East Side das | |
Leben auf den Straßen dokumentiert. „Ein Foto von Levitt erzählt weniger, | |
als dass es hervorbringt“, schreibt Duncan Forbes, Spezialist für die | |
Fotografie der Zwischenkriegszeit, im Katalog zur Mitte Oktober eröffneten | |
Ausstellung in der Wiener Albertina. | |
Forbes sieht Levitt als „dissidente Bildermacherin“, die zwar distanziert, | |
aber offen für die kulturellen Entwicklungen in ihrer Umgebung gewesen sei. | |
Der Einfluss der kommunistischen Kultur sei unverkennbar, werde aber oft | |
heruntergespielt, weil sie nie Parteimitglied war. Mit der linken | |
Künstlerorganisation Workers Film and Photo League in New York stand sie | |
zumindest in enger Verbindung. | |
## Vom Stummfilm beeinflusst | |
Levitts frühe Aufnahmen sind stark vom Stummfilm beeinflusst, wie der | |
Kurator Walter Moser anhand konkreter Beispiele expressiver Gestik | |
nachweist. Da schreitet etwa ein Mann mit besonders großen Schritten über | |
die Straße und grüßt im Stil von Charlie Chaplin mit dem Hut. Proof prints | |
von Negativstreifen, die ein und dasselbe Sujet mit leichten Verschiebungen | |
zeigen, evozieren filmische Sequenzen. | |
Levitts Bilder vermitteln den Eindruck, dass die Straße den Kindern gehört. | |
Ihre Spiele kreisen oft um Krieg und Gewalt, worin man in den 30er Jahren | |
die Imitation von aus dem Kino bekannten Bandenkriegen der Mafia | |
widergespiegelt sehen kann, in den 40er Jahren dann zunehmend den in Europa | |
tobenden zweiten Weltkrieg. Auch die von Levitt dokumentierten kindlichen | |
Grafitti an den Hauswänden kreisen um Krieg und Gewalt. In der U-Bahn | |
gelingt es ihr, aus dem Mantel heraus heimlich nichtsahnende Passagiere | |
abzulichten, deren Mimik besonders natürlich wirkt. | |
Fotografisch begibt sich Levitt nur ein einziges Mal aus New York hinaus, | |
nämlich als sie 1941 auf Anregung Cartier-Bressons mehrere Monate in Mexiko | |
arbeitet. Den überlieferten Fotos geht jede Exotik ab. Das Mexiko, das wir | |
von den ästhetisierenden Bildern einer Tina Modotti kennen, dessen | |
pulsierendes Kulturleben von Stars wie Diego Rivera und Frida Kahlo geprägt | |
war, zeigt sich bei Helen Levitt als trister, aber unspektakulärer | |
Straßenalltag in Außenbezirken der Hauptstadt. | |
Das fotografische Werk bricht Mitte der 1940er Jahre plötzlich ab, als sich | |
Helen Levitt mit dem Film zu befassen beginnt. Gemeinsam mit der Malerin | |
Janice Loeb und James Agee, ihrem damaligen Liebhaber, dreht sie zunächst | |
experimentelle Kurzfilme ohne echte Handlung. Der bekannteste heißt In the | |
Street, in dessen Vorspann es heißt: „In den Armenvierteln großer Städte | |
ist die Straße vor allem ein Theater und ein Schlachtfeld. Hier ist jeder | |
Mensch, unbewusst und unbeobachtet, ein Poet, Maskenspieler, Krieger, | |
Tänzer: und in seinem unschuldigen Künstlertum projiziert er, gegen den | |
Tumult der Straße, ein Bild der menschlichen Existenz.“ | |
## Später experimentiert sie mit Farbfilm | |
Anliegen des Films sei es, dieses Bild einzufangen. Spätere Filme verraten | |
mehr über die politische Prägung der Künstlerin, es sind Sozialdramen ohne | |
echten Plot, die etwa das Elend des Alltags von Arbeitslosen oder einer | |
Arbeiterwitwe zeigen. | |
Wenn Helen Levitt Ende der fünfziger Jahre plötzlich wieder mit ihrer Leica | |
durch die Straßen zieht, experimentiert sie mit dem Farbfilm, der teuer und | |
damals in der Kunstfotografie noch unüblich war. Dank zweier Stipendien | |
kann sie sich die kostspieligen Filme und das noch teurere Entwickeln | |
leisten. | |
Levitt ist eine Pionierin des Genres. Co-Kuratorin Astrid Mahler schreibt | |
über die Farbfotografie: „Zum damaligen Zeitpunkt hatte sie die hyperreale | |
und banale Aura kommerzieller Werbe-, Mode- oder amateurhafter | |
Knipserfotografie.“ | |
Obwohl die Sujets ähnlich sind wie die ihrer frühen Schwarz-Weiß-Arbeiten, | |
ist der andere Charakter der Aufnahmen augenfällig. Der längeren | |
Belichtungszeit ist es geschuldet, dass die Bilder statischer werden. | |
Kinder kommen kaum mehr vor oder sind nur Beiwerk der von Erwachsenen oder | |
Autos beherrschten Szenen. Knallige Farben verlangen eine andere | |
Bildkomposition als Grau in Grau. | |
Augenfällig wird das etwa bei Kindern am Kaugummiautomaten von 1971 oder | |
bei einer nackten Schaufensterpuppe von 1988, die einmal farbig, einmal | |
schwarz-weiß in Szene gesetzt wurde. Wenig später stellte Levitt ihre | |
Arbeit altersbedingt ein. Sie starb 2009 in New York. | |
22 Oct 2018 | |
## AUTOREN | |
Ralf Leonhard | |
## TAGS | |
Fotografie | |
Ausstellung | |
Rechtsextremismus | |
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