# taz.de -- Lukas Dhonts Film „Girl“: Die Kamera sucht die Beule | |
> Der Film „Girl“ erzählt vom Leidensdruck einer | |
> Transgender-Ballettschülerin. Teils leider aus voyeuristischer | |
> Perspektive. | |
Bild: Für seine Darstellung wurde er in Cannes ausgezeichnet: Victor Polster a… | |
Dass Lara für die Erfüllung ihrer Träume einiges in Kauf nimmt, ist sofort | |
klar: „Was machst du da?“, fragt Vater Mathias, als er seine 15-jährige | |
Tochter vorm Badezimmerspiegel an ihren Ohren fummeln sieht. „Ich wollte | |
Ohrlöcher, also habe ich mir welche gemacht.“ Die Läppchen mit einem | |
Eiswürfel betäubt, nimmt Lara das Piercen kurzerhand selbst vor. Warum auch | |
viel Aufwand betreiben, wenn man solcherlei Dinge in einigen Sekunden | |
daheim erledigen kann? | |
Lara (Victor Polster) hat ein ziemlich deutliches Bild davon, wer sie ist | |
und sein möchte. Und wie sich das alles am schnellsten realisieren ließe. | |
Sie ist ehrgeizig und scheinbar schmerzlos. Das zeigt sich nicht nur beim | |
eigenhändigen Stechen von Ohrlöchern, sondern auch beim Ballettunterricht, | |
den sie neuerdings an einer renommierten Akademie erhält. Die Familie, | |
bestehend aus Vater Mathias (Arieh Worthalter) und einem kleinen Bruder, | |
hat dafür extra einen Umzug auf sich genommen. Lara soll das Leben führen, | |
das sie sich wünscht. Die Familie zieht diesbezüglich an einem Strang. Aber | |
niemand zieht stärker als Lara: Sie reißt förmlich an ihm. | |
Es ist eine nachvollziehbare Ungeduld, die das Mädchen umtreibt. Sie nagt | |
aber genauso auch an den Nerven ihres Umfelds. Und natürlich auch an den | |
eigenen. Lara setzt sich einem ungeheuren Druck aus, um die Person zu | |
werden, die sie längst ist, die aber gleichwohl in Konflikt steht mit dem, | |
was ihr noch immer zwischen den Beinen hängt und das sie versucht, mit | |
Klebeband unsichtbar zu machen: einem Penis. | |
„Girl“ des belgischen Regisseurs Lukas Dhont ist über eine relativ kurze | |
Zeitspanne angesetzt. Er begegnet Lara in einem Moment, an dem schon viel | |
erreicht wurde, aber eben noch nicht alles. Sie hat gerade das Training an | |
der neuen Schule begonnen, äußerlich stellt sie sich als eine sehr | |
schlanke, große und anmutige junge Frau dar. Das Haar trägt sie lang und | |
blond, die Kleidung ist pastellfarben und modisch. Lara kocht gerne. Und | |
sie schwärmt für einen Jungen, der ihr Nachbar ist. Selbstverständlich | |
tanzt sie als Ballerina. | |
Aber trotzdem wird in der Klasse die Frage aufgeworfen, ob alle damit | |
einverstanden sind, wenn auch sie die für Frauen deklarierten | |
Hygiene-Vorrichten benutzt. Die Abstimmung wird unter Ausschluss von Lara | |
vollzogen: Sie muss die Augen schließen. Ein auf den ersten Blick faires | |
Verfahren, das dennoch Schmerzen bereitet. | |
## Lara bleibt eine Fremde | |
Jener offenkundige und paradoxerweise dennoch schwer fassliche Schmerz ist | |
eines der Grundsymptome der Welt, in der sich Lara bewegt: Man behandelt | |
sie weitestgehend wohlwollend und progressiv – dennoch schwingt gerade in | |
diesem bewussten Verhalten, dieser Vorsicht, eine Botschaft mit, die eben | |
doch Andersartigkeit vermittelt. Lara bleibt eine Fremde, etwas Fremdes. | |
Die Mädchen der Klasse zeigen das vielleicht am schärfsten: Sie lassen sie | |
nicht einfach so in ihre Reihen. Es gibt kleine Tricks und Tests, auch eine | |
unverblümte Erniedrigung während eines Sleepovers. Und der kleine Bruder | |
nennt Lara in der aggressiven Stimmung eines Streits einmal bei ihrem | |
männlichen Vornamen: Victor. | |
Es ist, als wäre da stets eine Waffe in der Tasche, auch wenn man sich | |
entschlossen hat, den Abzug nicht zu drücken. Eine stille Übereinkunft, die | |
jedoch nur eine flüchtige Sicherheit verspricht. Das Spannungsfeld für die | |
Jugendliche erstreckt sich also entlang dieser Pfeiler: verständnisvollen | |
Anrufen zur Selbstannahme seitens Therapeuten, Ärzten, Familie; das | |
aufblitzende Misstrauen und Unverständnis, das Lara zweifelsohne | |
wahrzunehmen versteht. | |
## Weibliche Geschlechtshormone | |
Widersprüchliche Botschaften, mit denen das Mädchen auf ihre eigene Weise | |
umgeht: Sie schweigt. Außerdem nimmt sie die Situation selbst in die Hand. | |
Wo das professionelle Personal zu Langmut und Zuversicht rät, gerät Lara | |
aufgrund des Leidensdrucks in Aktion und teils auch in Aktionismus. An der | |
Ballettschule arbeitet sie härter als die anderen. Von den weiblichen | |
Geschlechtshormonen, die das Wachstum von Brüsten befördern sollen, nimmt | |
sie gleich ein Zigfaches. | |
Lukas Dhont versteht sich ausgezeichnet auf das Zeigen dieser Dynamik. Und | |
Victor Polsters Darstellung ist exzellent, wofür man ihn in Cannes mit | |
einem Darstellerpreis bedachte. Ungeachtet dessen ist die bereits laut | |
gewordene Kritik an „Girl“ zumindest beachtenswert: Warum hat man Lara | |
nicht von einer jungen Frau mit Transgender-Hintergrund spielen lassen? | |
Können zwei Männer wie Dhont und Angelo Tijssens, die gemeinsam das | |
Drehbuch verfasst haben und selbst nicht Transgender sind, eine Geschichte | |
wie die von Lara wirklich glaubhaft erzählen? | |
Und tatsächlich bedient sich „Girl“ zahlreicher voyeuristischer | |
Perspektiven: Laras Obsession für ihr Genital scheint auch der Kamera zu | |
eigen, die sich immerzu auf die Suche nach der verräterischen Beule macht. | |
Oder ist es die eigene Schaulust, die da über Wahrnehmbares richtet? | |
Gedankliche Verstrickungen, die zumindest Lara in der gezeigten | |
Akutsituation eher wenig nützen. Denn sie haben abermals alle nichts mit | |
ihr zu tun. | |
17 Oct 2018 | |
## AUTOREN | |
Carolin Weidner | |
## TAGS | |
Film | |
Transgender | |
Spielfilm | |
Geschlechtsidentität | |
Schwerpunkt Femizide | |
Sexualität | |
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