| # taz.de -- Die Wahrheit: Verloren im Maislabyrinth | |
| > Sind die herbstlichen Irrgänge zwischen den hoch aufragenden Pflanzen | |
| > Orte unschuldiger Freude oder bergen sie ein dunkles Geheimnis? | |
| Bild: Ganz harmlos können hölzerne Nussknacker aussehen | |
| Wind peitscht durch die hochgewachsenen Pflanzen, die wie zum Spott ihre | |
| obszön gelben Kolben heiter nicken lassen, als wollten sie zu mir sagen: | |
| „Tja. Wer zuletzt lacht, lacht am besten.“ | |
| Es war vor vier oder fünf Tagen – ich habe jedes Zeitgefühl verloren –, a… | |
| ich versehentlich in ein Maislabyrinth geriet. Ich hatte gedacht: „Hui! Ein | |
| Maislabyrinth, hier direkt an der Straße. In so was wollte ich ja schon | |
| immer rein. Das wird bestimmt lustig.“ | |
| Zuerst war es wirklich nur ein Spaß, und ich musste unentwegt lachen, als | |
| ich den Ausgang nicht mehr fand. Da waren auch viele Familien mit Kindern, | |
| die ebenfalls die ganze Zeit lachten. Also konnte es so gefährlich nicht | |
| sein, dachte ich. | |
| Die Aussage des Maislabyrinth-Besitzers, dass es ihm scheißegal sei, ob die | |
| Leute wieder hinaus finden oder nicht, hatte ich anfangs unter der Rubrik | |
| „Humor“ verbucht und nicht ernst genommen. Jetzt allerdings, da ich | |
| versuche, mich mit – ja, haha, Mais – am Leben zu erhalten und Tau von den | |
| Blättern schlecke, kommt mir langsam der Verdacht, dass das böse zuckende | |
| Auge des maulwurfhaarigen Maislabyrinth-Besitzers mit dem pockennarbigen | |
| Gesicht gar kein freundliches Zwinkern sein sollte, sondern nur der Tick | |
| eines Irren war, von dem ich hätte gewarnt sein müssen. | |
| Am ersten Tag erschrak ich, als ich bemerkte, dass es im Labyrinth keinen | |
| Handy-Empfang gibt. Da dachte ich noch: „Wow! Da werde ich heute Abend in | |
| der Kneipe aber etwas zu erzählen haben.“ Die treuselige Kreatur, die ich | |
| damals noch war, ist mir jetzt so fremd wie ein Schlumpf. | |
| Am zweiten Tag bemerkte ich, dass das Kinderlachen verstummt war. Und auch | |
| die kreischenden Schreie verzweifelter Mütter und Väter, die auf der Suche | |
| nach ihren Rotzlöffeln ganz neue Bahnen ins Maisfeld brachen, konnte ich | |
| nicht mehr vernehmen. Langsam wurde mir klar, dass ich verloren war. Auch | |
| bemerkte ich, dass ein unheimliches Wesen schon seit Stunden in meiner Nähe | |
| war, aber sich offenbar nicht traute, mich bei Tageslicht anzugreifen. | |
| Dunkelheit senkte sich über das Labyrinth. Als ich feldmausartig durch den | |
| Irrgarten krabbelte, stieß ich zunächst auf ein paar vertrocknete Mumien, | |
| die allesamt Schilder um den Hals trugen: „Reisegruppe Speyer. 1999.“ So | |
| alt war dieses Refugium also schon mindestens. Dann fand ich ein Duplo! | |
| Alles in mir schrie freudig auf: „Endlich Zivilisation! Endlich!“ Doch ach: | |
| Das Verfallsdatum war irgendwann in den Siebzigern. | |
| Und nun sitze ich hier und habe mein Schicksal angenommen. Für jeden kommt | |
| irgendwann die Zeit, abzutreten. Warum nicht in einem blöden | |
| Maisfeldlabyrinth, aus dem man einfach nicht mehr herausfindet. Schlimmer | |
| dran sind sicher Menschen, die auf einem wilden Ozean verdursten. Mit denen | |
| wollte ich nicht tauschen. | |
| Da ich keinen Handy-Empfang habe, musste ich diesen Text mit der Nase auf | |
| einem Satellitentelefon tippen. „Au revoir mais pas adieu.“ Tschüss, aber, | |
| Mais, nicht auf Wiedersehen. | |
| 16 Oct 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Corinna Stegemann | |
| ## TAGS | |
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