# taz.de -- Die Wahrheit: Ein Apfel! | |
> Ein einfaches Stück Obst auf dem Laufband einer Supermarktkasse kann | |
> schon mal zu einem verschärften Drama führen. | |
Den Hass, der mir hinterwärts aus der Einkaufsschlange entgegenschlug, | |
hatte ich zuerst nicht auf mich bezogen, da ich mir keiner Schuld bewusst | |
war. Ich hatte lediglich einen Apfel kaufen wollen. „Einen Apfel!!!! Die | |
kauft nur einen Apfel?!? Das ist ja sagenhaft, wow, ein ganzer Apfel! Das | |
hat die Welt ja noch nicht gesehen – diese Frau kauft tatsächlich nur einen | |
einzigen Apfel!! Wie blöd kann man denn eigentlich sein? Die kauft | |
tatsächlich nur einen einzigen Apfell!!!“ | |
Genau. Manchmal muss man seinen Begierden einfach nachgeben. Als das | |
rufende Weib hinter mir mit seinen dürren und knorrigen Fingern aber auch | |
noch in mein lockiges Haar griff und daran riss und zerrte, als wollte es | |
mir gleich den ganzen Skalp vom Kopfe reißen, und dabei immerzu schrie: | |
„Ein Apfel!!! Das muss man sich mal ansehen: ein Apfel!!!“ – da wurde mir | |
doch ein bisschen mulmig. Schnell griff ich nach einem Schwert, das bei den | |
Süßigkeiten an der Kasse lag, um der bösartigen Frau damit zu drohen, doch | |
sie war schneller und schnappte sich das Schwert vor mir. Verdammt, sie war | |
einfach besser! | |
Ein schneller Seitenblick auf das Einkaufsband versicherte mir, dass mein | |
Apfel noch dort lag. Auf der Stirn der Kassiererin bildeten sich | |
Schweißperlen, die wie tanzende Glöckner zum schiefen Schräpen der rostigen | |
Ventilatoren mit sattem Glucksen zu Boden fielen, noch ehe man sich versah. | |
Die Kassiererin wagte nicht zu atmen, geschweige denn einen Augenaufschlag. | |
Dabei war sie recht hübsch mit ihren brünetten Haaren und den niedlichen | |
Sommersprossen. Ich hätte mir gut vorstellen können, dass das schöne Kind | |
vielleicht in seiner Freizeit stickt oder Katzenbilder zeichnet oder | |
womöglich auch Ballett tanzt, doch für derartige gedankliche Eskapaden war | |
hier und jetzt wirklich keine Zeit. | |
Nun aber standen wir da: die unberechenbare böse Frau und ich. Sie mit | |
einem Schwert und ich nur mit einem einzigen Apfel. Jetzt verfluchte ich | |
mich selbst dafür, nicht mindestens vier Äpfel gekauft zu haben – vier | |
Äpfel! Was das jetzt für ein Segen wäre – zu spät! | |
Unsere Augen bohrten sich paarweise ineinander, und ich bemerkte, wie | |
hässlich dieses Weibsstück war. Die Haare, die von ihrer Oberlippe wuchsen, | |
schlängelten sich dreimal um ihre warzigen Knöchel, sodass sie bei jedem | |
Versuch, einen Schritt auf mich zu zu machen, stolperte und sich mit irren | |
Verrenkungen auf dem schmutzigen Fußboden drehte. | |
Doch damit nicht genug! Die rollenden Augen, die beschäumten Lippen und die | |
aufgequollenen Muskeln, die wilden Gebärden und der rasende Irrsinn, mit | |
dem diese Unsinnige ihre klappernden Kiefer zusammenschlug und mit | |
lallender Zunge „Ein Apfel! Nur ein Apfel!“ stammelte, all diese Ausbrüche | |
einer fanatischen Wut kamen mir seltsam grotesk vor. Ich bezahlte meinen | |
Einkauf und dankte Zeus dafür, dass die Irre nicht gesehen hatte, dass ich | |
nur eine einzige Mandarine gestohlen hatte. Und ich gab Fersengeld! | |
5 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Corinna Stegemann | |
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