# taz.de -- Eingekesselte Castor-Gegner*innen: Entschädigung erstritten | |
> Das Landgericht Lüneburg sprach den Demonstranten, die bei den | |
> Castortransporten 2010 und 2011 eingekesselt wurden, ein Schmerzensgeld | |
> zu. | |
Bild: Polizeikessel bei Harlingen 2011: Nicht okay, finden die Richter | |
GÖTTINGEN taz | Sieben Jahre nach dem bislang letzten Castortransport mit | |
hochradioaktivem Atommüll nach Gorleben sind die juristischen | |
Auseinandersetzungen um die Rechtmäßigkeit von „Polizeikesseln“ unter | |
freiem Himmel vorerst abgeschlossen. Das Verfahren endete mit einem Erfolg | |
für die Atomkraftgegner*innen: Das Landgericht Lüneburg sprach den | |
Betroffenen Schmerzensgeld in Höhe von jeweils 350 Euro zu. Alleine die | |
Rechtsanwältinnen der Hamburger „Ladenkanzlei“ erstritten für ihre | |
Mandanten insgesamt rund 35.000 Euro. | |
Im November 2010 und 2011 transportierte die Gesellschaft für | |
Nuklear-Service im Auftrag der deutschen AKW-Betreiber jeweils elf | |
Castorbehälter von der französischen Wiederaufarbeitungsanlage La Hague ins | |
Gorlebener Zwischenlager. Überall an der Strecke protestierten Menschen | |
gegen die Fuhre. Besonders heftig war der Widerstand im Wendland selbst. | |
Neben vielen anderen Aktionen, gab es dort von der Initiative „Widersetzen“ | |
und anderen Gruppen organisierte Gleisblockaden mit Tausenden Teilnehmern | |
nahe der kleinen Ortschaft Harlingen. | |
In stundenlangen Einsätzen räumte die Polizei die Blockaden und sperrte die | |
Blockierer so lange in „Freiluftkesseln“ nahe der Schiene ein, bis der | |
Castor-Zug die betreffende Stelle passiert hatte. Alleine 2011 wurden rund | |
1.300 Personen draußen festgehalten. Einige Demonstranten standen oder | |
saßen bei Temperaturen nahe null Grad – und teilweise ohne Verpflegung und | |
die Möglichkeit zu telefonieren – bis zu sieben Stunden in diesem Kessel. | |
Die Beamten ließen sich das Festsetzen der Protestierenden allerdings nicht | |
von einem Richter genehmigen – der hätte einen eventuellen Gesetzesverstoß | |
der Blockierer erläutern und die Polizeimaßnahme begründen müssen. Deshalb | |
erhoben viele Betroffene Klage – und gewannen nach einem Prozessmarathon | |
durch zahlreiche Instanzen: Mehrere Gerichte erklärten die Einkesselung für | |
rechtswidrig. | |
„Die Freiheitsentziehung stellt einen schwerwiegenden Eingriff in die | |
Menschenrechte dar, der mit gutem Grund nach deutschem und europäischem | |
Verständnis nur bei ebenso schwerwiegenden Gründen und mit juristisch | |
einwandfreiem Vorgehen zulässig ist“, hieß es etwa in einem Urteil des | |
Landgerichts Lüneburg aus dem Jahr 2013. „Konkrete Anhaltspunkte dafür, | |
dass von dem Betroffenen Straftaten ausgegangen sind oder zu erwarten | |
waren, liegen jedoch nicht vor.“ Bei der Räumung der Schiene hätten | |
außerdem zunächst Platzverweise ausgesprochen werden müssen, mit der | |
Möglichkeit, das Gelände zu verlassen ohne in den Polizeikessel gebracht zu | |
werden. | |
2015 erkannte das Bundesverfassungsgericht im Grundsatz den Anspruch der | |
Geschädigten auf Schmerzensgeld an. Die Verfassungsrichter wurden deutlich: | |
„Gerade dieser Willensbeugung und dem Ausgeliefertsein der staatlichen | |
Hoheitsgewalt kann eine abschreckende Wirkung für den künftigen Gebrauch | |
grundrechtlich garantierter Freiheiten – namentlich der durch Art. 8 Abs. 1 | |
GG geschützten Teilnahme an Demonstrationen – zukommen“, heißt es in dem | |
Beschluss (1 BvR 2639/15). | |
Über die Höhe der Entschädigung hatte nun wieder das Landgericht Lüneburg | |
zu entscheiden. 1.000 Euro pro Person hielten die Anwältinnen der Kläger | |
für angemessen, es gibt aber nur 350 Euro, entschieden die Richter. | |
## Spendenaufruf an die Schmerzensgeld-Empfänger*innen | |
„Das ist natürlich viel zu wenig, aber trotzdem ein Erfolg“, sagte | |
Rechtsanwältin Johanna Siemmsen-Hinzmann vergangene Woche zur taz. Eine | |
zunächst eingelegte Beschwerde beim Oberlandesgericht Celle haben die | |
Juristinnen zurückgenommen. Das Gericht habe erkennen lassen, dass die | |
Beschwerde verworfen würde, so Siemmsen-Hinzmann. | |
Wie viele Aktivisten Anspruch auf das Geld haben, steht noch nicht fest. | |
Denn wer sich in der Sache nicht anwaltlich vertreten ließ, muss nun | |
beweisen, dass er oder sie damals eingekesselt war. | |
Die Initiative „Widersetzen“ befindet sich zurzeit, weil keine | |
Castortransporte rollen, in einer Art Ruhe-Modus. Weil sie auch nicht als | |
Verein eingetragen ist und keine Spendenquittungen ausstellen kann, hat sie | |
den Schmerzensgeld-Empfängern empfohlen, die Summe oder einen Teil davon an | |
andere Protagonisten des wendländischen Anti-Atom-Widerstandes zu spenden. | |
Als Adressaten kämen die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, | |
das Gorleben-Archiv oder die Bildungs- und Begegnungsstätte „Kurve Wustrow“ | |
infrage. | |
3 Oct 2018 | |
## AUTOREN | |
Reimar Paul | |
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