# taz.de -- 40 Jahre taz: Krise der SPD: Wer lässt sich nicht beraten …? | |
> … Sozialdemokraten. Seit Jahrzehnten scheitert die SPD an sich selbst. | |
> Sie müsste ihre inneren Strukturen erneuern. Doch wird das Realität? | |
Bild: Ratlose Blicke: Gerhard Schröder und Peter Grafe, Autor dieses Texts, im… | |
Als wir die taz 1979 gründeten, regierte eine „sozial-liberale“ Koalition | |
aus SPD und FDP. Helmut Schmidt war Bundeskanzler. Die SPD lag bei knapp 43 | |
Prozent und wurde von uns als Teil eines repressiven Staates gesehen, | |
verantwortlich für Aufrüstung, Notstandsgesetze und Berufsverbote. Die SPD | |
konnte die Frauen-, Friedens-, Ökologie- und Antiatombewegungen kulturell | |
und politisch nicht integrieren. | |
Als taz-Reporter im Ruhrgebiet und in der damaligen Hauptstadt Bonn stieß | |
ich auf reale Sozialdemokraten. Auch auf solche, die nahe daran waren, an | |
ihrer Partei zu verzweifeln. Auf der anderen politischen Seite machte mich | |
eine überraschende Beweglichkeit beim „Feind“ CDU neugierig, und ich | |
schaute genauer hin. Daraus wurde das Buch „Schwarze Visionen“, in dem ich | |
die Konzepte und Maßnahmen beschrieb, mit denen sich die Konservativen | |
erneuerten. | |
Die CDU reagierte schneller und konsequenter als die SPD auf den | |
gesellschaftlichen Wandel. Das fand ich ärgerlich und legte unter dem | |
Buchtitel „Tradition & Konfusion – SPD“ deren organisatorische, | |
programmatische und kommunikative Defizite offen. Diese Analysen brachten | |
mir einige Aufträge ein, bei der Erneuerung der SPD zu helfen. | |
„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie | |
entstanden sind.“ Alle nicken – die Mahnung Albert Einsteins erscheint | |
trivial. Doch wer, bitte schön, möchte sich eingestehen, dass schmerzhafte | |
Niederlagen durch die eigene Denkweise entstanden sind? Die SPD bisher | |
nicht. Bei den Bundestagswahlen sackte sie zwischen 1972 und 2017 von 45,8 | |
auf 20,5 Prozent. Seit 1990 verlor sie mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder | |
– von über 940.000 auf unter 445.000. | |
## 13 Vorsitzende seit Willy Brandt | |
Nach Willy Brandt bemühten sich zehn ordentliche und drei kommissarische | |
Vorsitzende vergeblich, diesen Trend aufzuhalten. Wie war das möglich? War | |
der gesellschaftliche Wandel für die SPD zu schnell? Oder hatten sich | |
geheimnisvolle Kräfte gegen die Sozialdemokraten verschworen? | |
Als Schröders „Superminister“ Wolfgang Clement in den frühen 1980ern noch | |
Parteisprecher war, irritierten ihn die Ergebnisse einer internen Studie: | |
Es gab offenbar gravierende Unterschiede zwischen den | |
Realitätswahrnehmungen, die in der Süddeutschen Zeitung und die in der | |
Parteizeitung Vorwärts dargestellt wurden. Schlimmer noch: Selbst die | |
Parteimitglieder glaubten eher der Süddeutschen als dem Vorwärts. | |
Und immer weniger ehemalige Stammwähler gaben zuverlässig ihre Stimme der | |
SPD. Also suchte die Parteiführung nach neuen Wählerschichten. | |
## Von inneren Bedenken und Interessen zerfressen | |
Seit Mitte der 1980er Jahre wollten einzelne Sozialdemokraten immer wieder | |
ihre Partei erneuern und saugten dafür Anregungen von Wissenschaftlern | |
verschiedener Fachbereiche, von Agenturen und Journalisten auf. Mit diesen | |
Ideen mussten sie in den Prozess der internen Entscheidungsfindung. Dort | |
kamen von den verschiedenen Seiten Bedenken – auch in Gestalt neuer | |
Vorschläge. Und am Ende blieb der angestrebte Aufschwung stecken. | |
Diesen Prozess wiederholten die Sozialdemokraten mit jedem neuen | |
Vorsitzenden: Jede innerparteiliche Gruppierung prüfte die Folgen für die | |
eigenen Interessen. Das Wohl der SPD war weniger wichtig. | |
1998 wurde Gerhard Schröder Bundeskanzler und brachte einige Wochen gute | |
Laune: Man war Helmut Kohl als Kanzler endlich los; die Sozialdemokraten | |
schienen in vielen Ländern im Aufwind. Es gab enge Verbindungen | |
insbesondere zum britischen Premier Tony Blair. Schröder und Blair | |
veröffentlichten 1999 ein gemeinsames Konzeptpapier zur Erneuerung | |
sozialdemokratischer Politik. | |
Drei Ex-tazler hatten im Kanzleramt mitgewirkt: Der verstorbene | |
taz-Mitbegründer und Journalist Reinhard Hesse schrieb Schröders beste | |
Reden. Walter Jakobs machte die Pressearbeit für den Kanzleramtschef Bodo | |
Hombach. Mir wurden Trendanalysen und Grundsatzfragen übertragen. | |
## Die Neuinterpretation von „Mehr Gerechtigkeit“ | |
Die SPD aber war inhaltlich nicht gut aufs Regieren vorbereitet, und | |
Schröder versuchte daher, die innerparteiliche Beharrung qua Regierungsamt | |
zu überwinden. Doch die angestrebte Richtung ging an der Gemütslage vieler | |
Sozialdemokraten vorbei. Sie murrten zwar, fügten sich aber vorerst. Doch | |
heute betrachten sie Schröders Regentschaft als neoliberalen Schwenk, der | |
dringend rückgängig gemacht werden sollte. | |
„Mehr Gerechtigkeit“ forderte die SPD seit ihrem Bestehen. Doch was | |
darunter zu verstehen und wie sie herzustellen sei, war chronisch | |
umstritten. Schröder versuchte, einen neuen Leitgedanken zu etablieren: | |
Eine Gesellschaft wird nicht dann gerechter, wenn ihr Sozialetat steigt, | |
sondern wenn sie einen immer geringeren benötigt. | |
Doch ein solches Leitmotiv einer neuen Gerechtigkeitspolitik wurde und wird | |
in der SPD nicht als Chance zur programmatischen Erneuerung aufgenommen, | |
sondern als Kürzungskonzept verdächtigt. Mehr Geld für Soziales gilt | |
weiterhin als Grundlage sozialdemokratischer Politik. Sie bleiben in der | |
paternalistischen Fürsorge stecken. | |
Dabei zerfällt ihre Politik in eine große Zahl von Einzelmaßnahmen, die | |
jeweils separat verhandelt werden und keinen normativen oder emotionalen | |
Zusammenhang erkennen lassen. Sie sind nicht mehr Symbol eines größeren und | |
viele Menschen faszinierenden gesellschaftlichen Zieles und daher emotional | |
leer. Eine solche zukunftsorientierte Faszination jedoch wäre das beste | |
Rezept gegen die Abwanderung ehemaliger SPD-Wähler zur AfD. | |
## 2018: Zurück auf Los | |
Die Stimmung in der SPD weist also programmatisch hinter Schröder zurück | |
und nicht über ihn hinaus. Ihre formellen Beschlusswege taugen nicht dafür, | |
die eigene inhaltliche und organisatorische Erneuerung erfolgreich zu | |
organisieren. Die SPD wurde immun gegen grundlegende Erneuerungsvorschläge. | |
Es war ein frustrierender Prozess, immer wieder zu erleben, dass die SPD | |
kluge Vorschläge von außen zwar honorieren, aber nicht umsetzen konnte. Im | |
Jahr 2001 habe ich erleichtert damit aufgehört, Sozialdemokraten in Sachen | |
Parteireform zu beraten. | |
Jetzt startet ein neuer Versuch: Eine kleine Gruppe externer Experten um | |
den Agenturchef Frank Stauss untersuchte die Gründe für das schlechte | |
Abschneiden bei der Bundestagswahl 2017. Die Ergebnisse wurden im Juni 2018 | |
auf 107 Seiten unter dem Titel „Aus Fehlern lernen“ veröffentlicht. Darin | |
wird unter anderem empfohlen, tief in die internen Strukturen einzugreifen: | |
Um die Kommunikations- und Kampagnen-Fähigkeit zu verbessern, soll in der | |
Parteizentrale künftig „eine Politik der flachen Hierarchien, der offenen | |
Türen, der Weitergabe von Wissen und der vertrauensvollen Kommunikation“ | |
das Leben bestimmen: „Das Kompetenzgerangel unter den verschiedenen | |
Kraftzentren … muss ein Ende haben.“ | |
## Es wäre eine interne Kulturrevolution | |
Und: „Das Denken in Lagern und Flügeln, in Parlamentarische Linke und | |
Seeheimer, in Netzwerker, Refos und Stamokap ist eine Sichtweise von | |
gestern. Dahinter steckt ein Politikverständnis, das außerhalb der Partei | |
niemand mehr versteht und das nicht mehr vermittelbar ist.“ | |
Das klingt nicht besonders dramatisch, wäre aber eine interne | |
Kulturrevolution, denn es sind genau diese Strukturen, die zur dauerhaften | |
Selbstbehinderung wurden und interne Reformer ausbremsten. Tatsächlich | |
hängt die Zukunft der SPD davon ab, ob und wie sie diese Empfehlungen | |
umsetzen wird. Nur dann kann sie als Organisation die nötige Lernfähigkeit | |
entwickeln, um der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen | |
Dynamik zu folgen. Und vielleicht auch wieder Wahlen gewinnen. | |
Ohne diesen internen Kulturwandel helfen auch die bessere Nutzung von | |
digitalen Kommunikationskanälen, ein neues Rentenkonzept oder die nächste | |
Kanzlerkandidatin nicht weiter. Der Sinkflug würde fortgesetzt. Fertig | |
machen zur Landung. | |
2 Oct 2018 | |
## AUTOREN | |
Peter Grafe | |
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