# taz.de -- 40 Jahre taz: Cohn-Bendit trifft Schulz: „Europa emotional beschr… | |
> Martin Schulz im Gespräch mit Macron-Wahlkämpfer Daniel Cohn-Bendit. Was | |
> muss getan werden, damit die Europawahl 2019 nicht schiefgeht? | |
Bild: Mehr Gefühl für Europa – und vielleicht auch Sex-Appeal | |
taz: Warum ist Europa als Wahlkampfthema in Frankreich so erfolgreich | |
gewesen? Dany, du hast [1][für den französischen Präsidenten Macron | |
Wahlkampf gemacht] und nicht für die Grünen, ich kann mich an | |
Wahlkampfauftritte von dir mit Macron erinnern, wo Frankreichfahnen und | |
Europafahnen in ungefähr gleicher Anzahl geschwenkt wurden. Warum gewinnt | |
man in Frankreich mit Europa Präsidentschaftswahlen, und in Deutschland | |
geht das offenbar nicht? | |
Martin Schulz: Das wäre in Deutschland auch gegangen. Das ist sicher einer | |
meiner Fehler in der Wahlkampagne gewesen, dass ich diesen Kampf um Europa | |
nicht in den Mittelpunkt gestellt habe. Es wäre auch bei uns gegangen. | |
Daniel Cohn-Bendit: Martin, wieso nicht? Ich weiß noch, wie du in München | |
geredet hast, da haben meine Frau und ich gesagt, wenn der Kandidat wird, | |
dann rockt die Republik. | |
Schulz: Der große Fehler, den ich gemacht habe, war ein doppelter. Einmal: | |
Europa nicht in den Mittelpunkt zu stellen. Zweitens hätte ich weiter so | |
reden müssen, wie ich immer geredet habe. Und mich nicht beraten lassen | |
dürfen von Leuten, die ein ganz bestimmtes, anderes Wording geben. | |
Hat Ihre Parteiführung Einfluss auf Ihre Wahlkampfführung genommen? | |
Schulz: Ja, klar. Du bist ja in so einem Wahlkampf nicht allein. Für Berlin | |
kam ich, nach 23 Jahren in einer anderen Kultur, von außen. Und da habe ich | |
natürlich auf Leute gehört, die schon Jahre in Berlin waren. Wenn du in | |
Brüssel am Tisch sitzt und Verhandlungen führen musst, sei es in der | |
Fraktion oder in einem Ausschuss oder zwischen Fraktionen oder zwischen | |
Institutionen, da geht es auch hart zur Sache, da wird auch hart gefochten. | |
Aber am Ende geht es um eine Kultur des gegenseitigen Respekts – und immer | |
um das gemeinsame Ziel, Europa voranzubringen. Das heißt, du musst in | |
diesem kulturellen Kontext immer mit einem viel höheren Grad an | |
Einfühlungsvermögen und an Offenheit, an reduzierter Taktik in so eine | |
Auseinandersetzung gehen. Was in Brüssel eben allgemein gilt, gilt in | |
dieser Frage für Deutsche im Besonderen. Das ist ein Stück unseres | |
historischen Erbes. Wenn du das jetzt 23 Jahre in richtig verantwortlicher | |
Position gemacht hast, kommst du mit dieser Kultur hierher. Und diese | |
Kultur gibt es hier nicht. Das politische Geschäft in Deutschland ist | |
konfrontativer – und es gibt keinen offensichtlichen Platz für Europa. | |
Cohn-Bendit: Es ist eine Stimmung. Ich kann das nachvollziehen. Als Macron | |
anfing mit den Europafahnen, haben eh alle geglaubt, er würde nie gewinnen. | |
Diese Einsicht, dass man mit Europa gewinnen kann, die gibt es bei den | |
meisten Parteien nicht. Am ehesten, würde ich sagen, verbal bei den Grünen. | |
Ist es nicht so, dass die Stimmung hier eher so ist, dass [2][„wir die | |
Zahlmeister Europas“] sind? | |
Schulz: Das sehe ich anders. Und zwar aus einer ziemlich tiefen Erfahrung. | |
Ich komm noch mal auf Berlin zurück. Diese | |
Wir-sind-die-Zahlmeister-Europas-Rhetorik, das ist der Wirtschaftsteil der | |
konservativen Wirtschaftspresse. Das korrespondierte nie mit der Haltung | |
einer Mehrheit der Bevölkerung, wenn es tatsächlich hart auf hart um Europa | |
ging. | |
Cohn-Bendit: Ja. Das ist ja der Widerspruch: Die Zahlmeister, das Gefühl, | |
wir wollen nicht Europa, wenn es kein deutsches Europa ist. Wir wollen | |
nicht Europa, wenn es kein französisches Europa ist. Wir wollen nicht | |
Europa, wenn es nicht ein holländisches Europa ist. Dieses Gefühl besteht, | |
aber seit dem Brexit ist jedem klar, ein Austritt bedeutet eine | |
katastrophale Entwicklung für das Land, das austritt. Wobei wir jetzt ja | |
ein neues Problem haben. Das ist ja, was Macron versucht zu formulieren. Er | |
sagt, die Auseinandersetzung, die wir jetzt vor uns haben, ist die | |
Auseinandersetzung um Europa in der Frage einer liberalen Demokratie oder | |
illiberalen Demokratie. Das ist die Trennlinie. | |
Ich glaube, die Menschen interessiert das sogenannte soziale Europa … | |
Cohn-Bendit: Quatsch. Ich kann das nicht mehr hören. Wenn die in der | |
Bundesrepublik wählen oder in Frankreich, wählen sie Personen. Das Problem | |
aber ist, dass die Menschen mit Europa nichts verbinden, weil sie mit den | |
Personen, die das vertreten, nichts verbinden. Macron hat doch nicht | |
gewonnen, weil er gesagt hat, ich mache mehr Soziales. Er hat gewonnen, | |
weil er seine Person mit einer Vision von Europa verbunden hat. | |
Um welches Gefühl geht es? | |
Schulz: Ich denke, man kann Europa auch emotional beschreiben! Du kannst | |
sagen: Es gibt in der Welt keine Region, in der es eine so große Dichte von | |
Verfassungsdemokratien gibt, die eine gemeinsame Währung haben und eine | |
gemeinsame Wirtschaft betreiben, auf der Grundlage einer Verfassung, die an | |
die allererste Stelle die individuelle Menschenwürde setzt. Das gibt es nur | |
in Europa. Das eint uns alle. Und darauf können wir gemeinsam stolz sein. | |
[3][Das Problem Nationalstaaten und Europa] – kann man da auf eine Linie | |
kommen? | |
Cohn-Bendit: Das ist ja Macrons Argumentation. Die nationale Souveränität | |
angesichts der Globalisierung. Die kannst du nicht mehr national | |
verteidigen. Wenn du deine nationale Selbstständigkeit, deine Autonomie, | |
deine Idee von Freiheit, sozialer Marktwirtschaft – wenn du die angesichts | |
der Globalisierung verteidigen willst, musst du einen Schutzschirm haben. | |
Und dieser Schutzschirm heißt: europäische Souveränität. Und das heißt, | |
diejenigen, die sagen, „Für Nationalsouveränität und gegen Europa!“, | |
handeln gegen die nationalen Interessen der Menschen, gegen die Fähigkeit, | |
in der globalisierten Welt etwas mitbestimmen zu können. | |
Warum tretet ihr beide nicht zusammen auf der Liste von „En Marche“ auf? | |
Schulz: Ich unterstütze die mutige Europapolitik von Macron. Das | |
Europakapitel des Koalitionsvertrages greift viele seiner Vorschläge auf | |
und bildet die Basis für einen neuen, gemeinsamen Aufbruch in Europa. Ich | |
werde mit der SPD auch bei der Europawahl für diesen Aufbruch kämpfen! | |
Konkretes Beispiel? | |
Cohn-Bendit: Ich bin dafür, dass die Franzosen den Deutschen anbieten, den | |
Sitz im Sicherheitsrat zu teilen. | |
Schulz: Ich würde einen Schritt weiter gehen. Nicht nur den Sitz zwischen | |
Deutschland und Frankreich teilen. Wenn ich Macron wäre, würde ich mein | |
Abstimmungsverhalten im Sicherheitsrat, solange die Europäische Union | |
keinen Sitz bekommt, einer Koordinierung innerhalb der EU unterwerfen. | |
Warum seid ihr nicht Spitzenkandidaten der nächsten Europawahlen? Du, Dany, | |
in Frankreich, Sie, Herr Schulz, in Deutschland? | |
Cohn-Bendit: Ich will diesen Wahlkampf mit Macron machen. Nicht gegen die | |
Grünen. Nicht, dass ich jetzt kein Grüner mehr bin, sondern ich sage, die | |
Zukunft für Europa bedeutet, dass wir eine Mitte-links- und wenn möglich | |
auch ökologische Mehrheit hinkriegen. Und die kriegst du von der Mitte aus | |
und nicht von der Position der Grünen. Die Grünen sollen gut abschneiden, | |
werden gut abschneiden. | |
Schulz: Ich bin Bundestagsabgeordneter und mein Platz ist jetzt in Berlin. | |
Cohn-Bendit: Schade. | |
Bleiben Sie hier, weil Sie Bundestagsabgeordneter sind oder weil die Partei | |
Sie nicht aufstellen will? | |
Schulz: Nein, ich werde mich im Wahlkampf für die SPD engagieren. Das ist | |
ganz klar. | |
Hat die SPD Sie gefragt, ob Sie Kandidat werden wollen? | |
Schulz: Nein. | |
Cohn-Bendit: Wenn ich den Grünen einen Rat geben könnte, sollte, dürfte, | |
dann würde ich keinen Spitzenkandidaten suchen, denn sie haben einen | |
potenziellen, das ist Cem Özdemir. Cem steht für etwas, was auch in dieser | |
Republik im Moment verhandelt wird. Deswegen, wenn er sich überzeugen | |
ließe, wäre das für die Grünen eine wichtige Sache. | |
Schulz: Ich muss noch mal auf den Koalitionsvertrag zurückkommen. Ich habe | |
den zu großen Teilen mit ausverhandelt und das Europakapitel selbst | |
mitverfasst. Und ich möchte, dass das umgesetzt wird, weil ich glaube, | |
dass, wenn dieser Teil der Regierungsvereinbarung in die Tat umgesetzt wird | |
– eine einheitliche europäische Steuerpolitik, ein europäischer | |
Finanzminister, ein Investitionshaushalt für die Eurozone, die Besteuerung | |
der Internetkonzerne, gemeinsame Sozialstandards –, dann ist viel für | |
Europa erreicht. Um dies zu garantieren, muss ich jetzt in Berlin arbeiten. | |
Cohn-Bendit: Zu einem Programm Europas müsste aber auch gehören, was Gesine | |
Schwan von der SPD auch vertreten hat, also parteiübergreifend diese Idee, | |
die auch Macron aufgegriffen hat, ein europäisches Institut für | |
Flüchtlinge. Städte, Gemeinden – es kommt darauf an, welche | |
institutionellen Strukturen es gibt –, die Flüchtlinge aufnehmen, sollten | |
dafür zwei Euro an Unterstützung bekommen. Und dann kommt noch ein Euro | |
dazu für einen lokalen oder regionalen Sozialetat. Das Signal des | |
zusätzlichen Euros: Wir helfen euch nicht nur bei den Flüchtlingen. Das | |
wäre eine europäische und nicht eine nationale Ebene. | |
Schulz: … und nicht mehr die traditionelle Rechts-links-Schattierung im | |
nationalen Staat. Ich glaube, dass sie sich in einer Konfrontation um die | |
Gestaltung Europas und der internationalen Politik neu definieren muss. | |
Cohn-Bendit: Noch mal zum Thema Flüchtlinge. Es gab einmal einen | |
Bundeskanzler, der hieß Helmut Kohl, der hat das gemacht, was Angela Merkel | |
2015 gemacht hat. Angesichts des Krieges in Bosnien hat Kohl gesagt, ich | |
mach die Grenzen auf. 600.000 Bosnier sind nach Deutschland gekommen. Kurz | |
danach gab es in Baden-Württemberg 14 Prozent für die Republikaner. Dann | |
ist er auf die europäische Ebene gegangen und hat gesagt, wir machen einen | |
neuen Flüchtlingsstatus. Einen begrenzten. Solange Krieg ist, gibt es den | |
temporären Schutz. Das hat Kohl durchgesetzt. Das gilt heute. Man hätte | |
ohne Probleme alle syrischen Flüchtlinge unter europäischer Gesetzgebung | |
als „temporär“ geschützte aufnehmen können. Und das, was für Bosnien da… | |
galt, gilt heute für Syrien, Jemen und Irak. | |
27 Sep 2018 | |
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