# taz.de -- 50 Jahre Gesamtschule in Hamburg: „Die FDP war die treibende Kraf… | |
> Ulrich Vieluf, Schulforscher und ehemaliger Staatsrat der Schulbehörde, | |
> über die Gründung der Gesamtschule in Hamburg. | |
Bild: Hier fing alles an: Die Gesamtschule Alter Teichweg in Dulsberg | |
taz: Herr Vieluf, Hamburgs älteste Gesamtschule wird 50. Nun lädt Sie die | |
Linke heute zum Festvortrag ein. Gibt es kein Fest des Senats? | |
Ulrich Vieluf: Das entzieht sich meiner Kenntnis. | |
Wie kam es dazu, dass 1968 aus der Volksschule Alter Teichweg eine | |
integrierte Gesamtschule wurde? | |
Es gab dort Lehrer und Eltern, die sich für die Gesamtschulidee | |
begeisterten, viel lief über Mundpropaganda. Politisch war damals die FDP | |
die treibende Kraft. | |
Die liberale FDP? Nicht die Arbeiterpartei SPD? | |
Auch in der SPD gab es viele Befürworter der Gesamtschulidee. Aber auf der | |
politischen Handlungsebene, wo die SPD 1967 die Alleinregierung stellte, | |
war sie zunächst zögerlich. Die FDP stellte aus der Opposition heraus einen | |
Antrag für einen Schulversuch zur Einführung der integrierten Gesamtschule. | |
Hintergrund waren unter anderem die zu geringe Bildungsbeteiligung und die | |
Chancenungleichheit in Deutschland. | |
War die damals schlimmer als heute? | |
Der Pädagoge Georg Picht hatte in seinen Thesen 1964 sogar von einem | |
„Bildungsnotstand“ gesprochen, weil in Deutschland die Investitionen in | |
Bildung im internationalen Vergleich viel zu gering waren und Deutschland | |
den Anschluss zu verlieren drohte. Die Gesamtschule, die die Bildungswege | |
für jeden offenhält, galt als ein Weg zu mehr Chancengerechtigkeit und | |
höherer Bildung. Auch damals war bekannt, dass man nicht schon im Alter von | |
zehn Jahren bei Kindern mit Sicherheit vorhersagen kann, wie sie sich | |
entwickeln werden. | |
Welche Bedenken hatten denn die Genossen? | |
Die Reform schien überstürzt. Man wollte zur Klärung etlicher | |
konzeptioneller Fragen zunächst im kleinen Maßstab Erfahrungen sammeln. | |
Und wie kam dieser neue Schultyp an? | |
Es herrschte eine Aufbruchstimmung. Es kamen junge Kollegen in die Schulen, | |
die ein Verständnis von Bildung mitbrachten, das Begabung nicht als | |
genetisch entschieden, sondern als pädagogisch entwickelbar ansah. | |
Lehrkräfte und Eltern haben aktiv geworben und andere Eltern und Kollegen | |
für die Idee gewinnen können. So waren es in dieser ersten Phase acht | |
integrierte und eine kooperative Gesamtschule, die schließlich an dem | |
Schulversuch teilnahmen. | |
Was waren die Kinderkrankheiten? | |
Die Pioniere arbeiteten unter Bedingungen, unter denen man heute keinen | |
Schulversuch mehr durchführen würde. Kaum etwas war fertig, alles musste | |
unterrichtsbegleitend erst entwickelt werden. | |
Was fehlte denn? | |
Es mussten die Curricula entwickelt werden. Es fehlte an Materialien für | |
die Kursdifferenzierung. Die Lehrer waren ja noch für den Frontalunterricht | |
in vermeintlich homogenen Gruppen ausgebildet worden. Es wurden neue Fächer | |
etabliert, wie beispielsweise Arbeitslehre. Man brauchte diagnostische | |
Verfahren, um die Schüler in ihrer Entwicklung einzuschätzen. Das war nicht | |
nur in Hamburg so, bundesweit standen die Gesamtschulen vor aufwändigen | |
Entwicklungsaufgaben. | |
Und was war nach zehn Jahren? | |
1979 wurde der Schulversuch beendet, die Gesamtschule wurde zur | |
Regelschule. In den Schulversuchsjahren hatte sich erwiesen: Die Idee der | |
Gesamtschule funktioniert. Dies führte zu einer Präambel im Schulgesetz, in | |
der es unter anderem hieß: „Die Schule soll in Richtung auf ein | |
integriertes System fortentwickelt werden.“ Der Gesetzgeber knüpfte dies | |
aber an den Elternwillen, was hoch umstritten war. Der damalige | |
Schulsenator Joist Grolle verteidigte diese Kopplung: Nicht | |
Notendurchschnitte würden letztlich über die Zukunft der Gesamtschule | |
entscheiden, sondern, ich zitiere, „die Frage, ob sie die menschlichere | |
Schule ist“. | |
Seither dürfen die Eltern entscheiden, auf welche Schule sie ihre Kinder | |
schicken? | |
Ja. Und es gab eine hohe Akzeptanz der neuen Schulform. So kam es nach der | |
gesetzlichen Einführung des Elternwahlrechts in den Folgejahren zu einer | |
Gründungswelle von 15 weiteren Gesamtschulen. 25 Jahre nach dem Start der | |
ersten Gesamtschule betrug die Anmeldequote der Fünftklässler für diese | |
Schulform etwa 30 Prozent des Jahrgangs. Gleichwohl hielten – und halten | |
bis heute – Kritiker dagegen: Der Staat kneife. Er habe das Ziel eines | |
integrierten Schulsystems aufgegeben und etabliere die Gesamtschule als | |
Schulform neben dem gegliederten System. | |
War die Gesamtschule erfolgreich? | |
Sie trug entscheidend zu höherer Bildungsbeteiligung und mehr | |
Bildungsgerechtigkeit bei. Und wie wir aus unseren Schulstudien wissen, hat | |
sie das durch erfolgreiche Förderung der Lernpotenziale ihrer Schülerinnen | |
und Schüler erreichen können. | |
Welche Lehren ziehen Sie für die Gegenwart? | |
Der grundlegende Konflikt besteht im heutigen Zwei-Säulen-System fort. Es | |
gibt keine Haupt- und Realschulen mehr, Gesamtschulen heißen heute | |
Stadtteilschulen. Diese Säule darf aber nicht als Reparaturbetrieb der | |
anderen Säule, des Gymnasiums, fungieren. De facto aber wechseln jährlich | |
rund 1.600 Schüler aus dem Gymnasium auf eine Stadtteilschule. Hinzu kommt, | |
dass die Stadtteilschule sowohl die Inklusion als auch die Integration von | |
Geflüchteten in großen Teilen bewältigen muss. Das ist kein kluges Modell | |
für die Zukunft. | |
Aber das Thema gilt als verkämpft. Seit dem verlorenen | |
Primarschul-Volksentscheid von 2010 trauen sich nicht mal die Grünen, die | |
Struktur anzufassen. | |
Beim Volksentscheid haben nicht die Eltern entschieden. Mag sein, dass der | |
Staat hier an Grenzen stößt und politisch zurzeit nichts anderes | |
durchsetzbar ist. Aber aus pädagogischer Sicht kann man den Gedanken an | |
eine inklusive Schule, eine Schule, die allen gleichermaßen gerecht wird, | |
nicht aufgeben. | |
18 Sep 2018 | |
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