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# taz.de -- Das Kreuz mit der Schulempfehlung: Lehrer machen Leute
> Hamburg hat sie sie, Schleswig-Holstein bekommt sie, in Niedersachsen gab
> es Streit: die Schulform-Empfehlung in der 4. Klasse setzt Familien unter
> Gymnasial-Druck.
Bild: Wer will aufs Gymnasium? Alle! Aber nicht alle haben die gleiche Chance, …
Hamburg taz | Am Wochenende war Englisch dran. Die elfjährige Lea* hat den
Sonntag über unregelmäßige englische Verben geübt, erst mit Papa, dann mit
Opa. „Find, found, found – fly, flew, flown“, und so weiter. Sie kann die
30 Verben, hat das Buch sogar nachts unters Kissen gelegt. Am Montag ist
der Test, am Mittwoch die Note. Wieder eine vier. Denn fünf von 20 Wörtern
waren nicht komplett richtig geschrieben. Zum Beispiel mit „d“ statt „t�…
Das ist streng zensiert. Nun denkt Lea, sie kann es nicht. Nächste Woche
ist Mathe dran. Dann Erdkunde mit den Bundesländern. Mama hat die Tests im
Kalender notiert.
Die Schulzeit ist für Familien, deren Kinder gerade aufs Gymnasium gekommen
sind, anstrengend. Leas Eltern sind etwas verzweifelt. Es ist nicht die
einzige Vier. Und am Ende des sechsten Schuljahrs müssen in Hamburg Kinder,
die zu schlecht sind, die Lehranstalt verlassen. Eine Fünf in Mathe,
Deutsch oder Englisch ist nicht erlaubt. Zum Schuljahreswechsel 2016/17
waren dies über 800 Kinder.
Leas Familie überlegt. Soll das Kind gleich zur Stadtteilschule wechseln,
wo es ja auch Abitur machen kann. Findet sie dort neue Freunde? Ist das ein
Eingeständnis des Scheiterns? Der Lehrer in der Grundschule hat ihr eine
Gym-Empfehlung gegeben. War aber nicht ganz sicher.
## Das Kind ist für die Schule da
Was viele Eltern offensichtlich nicht können, ist, dem Englischlehrer
Bescheid zu geben, warum er denn so strenge Tests schreibt und so
defizitorientiert zensiert. Das trauen sich Gymnasiumseltern nicht. Sie
tragen Pokerface. Ein Gymnasium passt sich nicht den Kindern an. Der
schwarze Peter liegt immer bei den Eltern. „Am Gymnasium ist das Kind für
die Schule da. Wenn es etwas nicht erreicht, wird abgeschult. Das System
muss sich nicht kümmern“, sagt Anna Ammonn, Sprecherin der neuen Hamburger
Elterngruppe „Zusammen leben, zusammen lernen“, die versuchen will, am
System etwas zu ändern.
Doch dieser Kulturkampf scheint fast aussichtslos. Ein Mathematik-Professor
spottete einmal, Lehrer könnten verlangen, dass die Kinder fürs Gymnasium
im Handstand rückwärts laufen, und die Eltern würden dies klaglos
akzeptieren. Ein Familienvater verriet ungerührt, dass er in der
Grundschulzeit immer mit Krawatte zum Elterngespräch ging. „Ich wollte von
der Lehrerin nur eins: Die Gymnasialempfehlung für mein Kind“, sagt der
höhere Angestellte. „Kleider machen Leute.“
Nur in Deutschland und Österreich werden Kinder schon nach der vierten
Klasse auf verschiedene Schulformen verteilt, beginnt der Run um soziales
Prestige so früh. Der Versuch der Grünen Schulsenatorin Christa Goetsch im
Jahr 2010, in Hamburg mit der sechsjährigen Grundschule etwas zu ändern,
ist bekanntlich am Aufstand der Bildungsbürger gescheitert.
## Auch die Eltern werden aufgeteilt
Und nicht nur die Kinder werden aufgeteilt, auch die Eltern. Denn sind sich
Lehrer nicht sicher, wie das Kind sich entwickelt, geht es nach
Bildungshintergrund der Familie, wie Schulforscher Ulrich Vieluf erklärt.
So spalten sich die Eltern, in die, von denen erwartet wird, dass sie zu
Hause Hilfslehrer spielen, und die, die das nicht können. Mit den Jahren
entstehen Schulen, wo mancher sein Kind nicht hinschickt. Wegen des
Umfeldes. Aber der Staat allein kann das nicht einfach steuern, und auch
aus gutem Grund.
„Die Bildungsforschung zeigt seit 40 Jahren, dass die Schulformempfehlungen
nicht realistisch sind, sondern sozial verzerrt“, sagt Wolfram Cremer vom
Institut für Bildungsrecht und Bildungsforschung (IfBB) der
Ruhr-Universität Bochum und folgert: „Auf dieser Grundlage darf der Staat
nicht in Grundrechte eingreifen.“ Der Jurist hat ein Rechtsgutachten zum
bayerischen Übergangssystem erstellt, wo die Gutachten der Grundschulen
verbindlich sind, und sagt, so dürfe es nicht sein. „Eltern müssen die
Übergangsentscheidung selber treffen dürfen.“ Eltern hätten ein Wahlrecht
für die weiterführende Schule, das stehe ihnen zu.
Das Thema spielte jetzt am Rande der rot-schwarzen Koalitionsverhandlungen
in Niedersachsen eine Rolle. Dort ist das Schulsystem sogar noch
fünfgliedrig. Es gibt ein paar Hauptschulen, einige Realschulen, einige
beide Bildungsgänge kombinierende Oberschulen, viele Gymnasien und immer
mehr Gesamtschulen.
Und bis 2015 galt dort noch eine unselige Regelung: die Neun- und
Zehnjährigen wurden per „Schulformempfehlung“ sogar in drei Kategorien
geteilt: Hauptschule, Realschule und Gymnasium. Ein Kind, das ohne die
echte Empfehlung aufs Gymnasium ging, konnte bei schwachen Leistungen schon
nach der 5. Klasse weggeschickt werden. Ein Kind mit „Gym“-Empfehlung
durfte die Klasse wiederholen.
Die scheidende SPD-Bildungsministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) machte
2015 diesem Unfug ein Ende. Sie schaffte die schriftliche
Schulformempfehlung ab und ersetzte sie durch zwei verbindliche
Beratungsgespräche. Die Kinder bekommen seither also keinen Zettel mit
angekreuzten Kästchen mehr nach Hause. Zudem gibt es ein Protokoll zur
Beratung, das die neue Schule über den individuellen Kompetenzstand in den
Fächern und mögliche Förderbedarfe informiert. Ziel war, die Eltern besser
in der Entscheidung zu unterstützen und den „nicht kindgerechten
Leistungsdruck im Primarbereich zu reduzieren“, sagt ein Sprecher des
Ministeriums.
## Kategorisierung „sehr schablonenhaft“
Der Schulleiterverband Niedersachsen lobte die Ministerin: Die Praxis
zeige, dass eine Kategorisierung in drei Bereiche „sehr schablonenhaft“
wirke und dem Kind nicht gerecht werde. Die Aufteilung in drei Niveaus ist
ohnehin überholt und entspricht nicht mehr den nationalen
Bildungsstandards. Dort unterscheidet man nur in „grundlegendes und
erweitertes Niveau“. Und es gab in Niedersachsen eben längst eine
vielfältigere Schullandschaft, vor allem die Gesamtschule ist im Aufwind.
Doch CDU-Spitzenkandidat Bernd Althusmann machte im Wahlkampf Front
dagegen. Er hörte auf die Forderungen des Philologenverbands Niedersachsen
(PHVN), der der alten Schulformempfehlung hinterhertrauert. „Die
Schulformempfehlung ist getilgt worden. Das führt dazu, dass Eltern
orientierungslos sind“, sagt Ronald Neßler, früherer Schulleiter und
Geschäftsführer des PHVN. Zwar gebe es besagte Beratungsgespräche, doch
manche träfen willkürliche Entscheidungen gemessen am Leistungsstand der
Kinder, was bei diesen Frust erzeugen könne. Und die mittlerweile hohe
Quote an Abiturienten gehe auf Kosten der Leistung, was man an den
Studienabbrechern sehe.
„Der Philologenverband argumentiert seit Jahren nach dieser Schablone“,
entgegnet Eberhard Brandt, ehemaliger GEW-Vorsitzender und Lehrer für
Geschichte und Politik. „Der Verband warnt vor dem Niedergang des
Gymnasiums seit 1910, als Kaiser Wilhelm den verpflichtenden Latein-Aufsatz
abschaffte“, sagt Brandt. „Ich würde bezweifeln, dass das Niveau des
Abiturs gesunken ist.“ Er habe im Zuge des neuen Zentralabiturs sehr
anspruchsvolle Aufgaben kennengelernt. Auch sei die Zahl der
Studienabbrecher nicht gestiegen. Und einen erkennbaren Run aufs Gymnasium
habe es in Niedersachsen nicht gegeben, da vor allem die Gesamtschulen
Zulauf hätten.
Seit Donnerstag steht die große Koalition in Hannover. Herausgekommen ist
ein Kompromiss. Für alle kommt die Schulformempfehlung nicht. Aber Eltern,
die es wollen, können sich wieder ein schriftliche Gutachten geben lassen.
Nun muss man gucken, welche Wirkung das entfaltet. Ob etwa beliebte Schulen
Kinder mit guter Empfehlung bevorzugen.
## Jamaika führt die Schulempfehlung wieder ein
Das Thema kocht auch in Schleswig-Holstein wieder hoch. Dort hat 2014 unter
Rot-Grün die parteilose Ministerin Waltraud Wende die ebenfalls
dreigeteilte Schulempfehlung abgeschafft, die Kindern mit
Hauptschul-Prognose sogar den Gang aufs Gymnasium verbot. Doch die Wohltat
hat jetzt im Mai die Jamaika-Koalitionsgespräche nicht überlebt. CDU, FDP
und Grüne wollen wieder eine schriftliche Empfehlung einführen, nach
Vorbild Baden-Württembergs. Dort sind die Eltern verpflichtet, den Bogen
auch in der neuen Schule abzugeben.
Geplant ist ein Rat zur Schulart. Ein Kind soll entweder zur
Gemeinschaftsschule oder zum Gymnasium empfohlen werden. Für
SPD-Schulpolitiker Martin Habersaat ein Schritt rückwärts. Er verstehe den
Mehrwert nicht. „Ein Gespräch ist doch differenzierter als ein Kreuz.“
Damit wird in Schleswig-Holstein die Lage ähnlich wie in Hamburg, es
entsteht die gleiche Dualität. In Hamburg gibt es seit 2011 den Bogen, auf
dem entweder nur „Stadtteilschule“ oder „Stadtteilschule/Gymnasium“
angekreuzt ist und das Seelenheil von Neunjährigen belastet.
Auch diese Kreuze sind umstritten. „Wir lehnen die Grundschulempfehlung
ab“, sagt die frühere Lehrerin Ammonn. „Man muss gucken, was diese Prognose
anrichtet. Es fängt in der 2. Klasse an, dass die Pädagogik drunter
leidet.“
„Die Empfehlung finde ich problematisch, weil sie implizit die
Stigmatisierung von Stadtteilschulen erhöht“, sagt auch Marc Keynejad,
Vorsitzender der Elternkammer in Hamburg. Das sei seine Meinung, einen
Kammerbeschluss gebe es dazu noch nicht.
## Es scheint, als wäre das Gymnasium das Tolle
Durch die Hierarchisierung – nicht alle bekommen die Empfehlung – erscheint
es so, als wäre das Gymnasium das Tolle. Doch es gibt unter Schulleitern
auch Stimmen, die von der Abschaffung abraten. Gibt es doch die Sorge, das
sonst immer mehr Fünftklässler die Gymnasien fluten. Davor warnten im
Frühjahr 2016 51 Stadtteilschulleiter in einem Brandbrief. Setze sich der
Trend bei den Anmeldezahlen fort, würden 2020 70 Prozent der Schüler zum
Gymnasium gehen.
Seither tagt in der Hamburger Schulbehörde eine AG von
Stadtteilschulleitern zur Kreuzchen-Frage. „Noch gibt es keine
Konsenslinie“, sagt Behördensprecher Peter Albrecht. Es gibt wohl
Stadtteilschulleiter, für die das Kreuz das kleinere Übel ist.
Eine zweite AG brütete übrigens über einer Info-Kampagne zur
Stadtteilschule. Die sei nötig, sagt Anna Ammonn. „Man muss die Eltern
darüber aufklären, dass die Fördermöglichkeiten dort erheblich besser
sind.“ Tatsächlich sind die Zahlen beeindruckend: Obwohl nur 4,4 Prozent
der gymnasialempfohlenen Kinder dorthin gehen, schaffen 41 Prozent den
Sprung in die Oberstufe.
„Viele Grundschullehrer waren selber nur auf dem Gymnasium“, ergänzt
Behördensprecher Albrecht. Die seien sehr „gymnasiumsfixiert“ und
orientierten deshalb Eltern in diese Richtung. Jetzt gibt es Workshops für
Grundschullehrer zu dem Thema, außerdem Plakate, Postkarten und
Youtube-Clips von Stadtteilschulen sowie ein Erklärvideo in mehreren
Sprachen.
Vielleicht wäre ja noch ein Video mit Lea gut, über die Wochenendgestaltung
einer Familie mit Gymnasiumskind. Und dem Slogan: „Stadtteilschule, wenn
Sie Sonntag frei haben wollen.“
*Name geändert
23 Nov 2017
## AUTOREN
Kaija Kutter
## TAGS
Selektion
Schule
Gymnasium
Schulbehörde Hamburg
häusliche Gewalt
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