| # taz.de -- Linker Ökonom über Erdoğans Politik: „Türkei kommt nicht am I… | |
| > Was die türkische Wirtschaft in Schwierigkeiten gebracht hat, was noch zu | |
| > retten ist und wie die Krise schlimmstenfalls ausgeht, erklärt Mustafa | |
| > Sönmez. | |
| Bild: Beim Bau des neuen Istanbuler Flughafens haben sich türkische Firmen hoc… | |
| taz: Herr Sönmez, am heutigen Donnerstag wird die türkische Zentralbank | |
| über ihre Leitzinsen entscheiden. Alle Welt erwartet eine signifikante | |
| Erhöhung zur Stabilisierung der türkischen Lira und der Bekämpfung der | |
| Inflation. Womit rechnen Sie? | |
| Mustafa Sönmez: Die Zentralbank ist wie eine Blackbox. Man weiß nicht | |
| genau, nach welchen Erwägungen sie ihre Entscheidungen ausrichtet. Aber da | |
| wir wissen, dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan ein Gegner hoher Zinsen | |
| ist, rechne ich damit, dass sie die Leitzinsen höchstens um ein oder zwei | |
| Punkte erhöht. | |
| Wird das reichen, um einen weiteren Wertverlust der Lira zu verhindern? | |
| Allein in diesem Jahr hat sie ja schon 40 Prozent gegenüber dem US-Dollar | |
| verloren. | |
| Auf keinen Fall. Ausländische Experten sagen, 4,5 bis 5 Punkte müssten es | |
| schon sein, um kurzfristig ein weiteres Abrutschen der Lira zu verhindern. | |
| Ich fürchte aber, jede Intervention der Zentralbank kommt längst zu spät. | |
| Spätestens als der Dollar mehr als 5 Lira kostete, hätte die Zentralbank | |
| die Leitzinsen massiv erhöhen müssen. Jetzt kostet der Dollar 6,5 Lira, und | |
| es geht gegen 7 Lira. Vielleicht könnte ein Schock wie die Erhöhung der | |
| Leitzinsen um mehr als 10 Punkte noch etwas retten, aber ich bin skeptisch. | |
| Finanzexperten glauben, dass einige türkische Banken ihre Dollarschulden | |
| nicht mehr bedienen können, wenn der Wechselkurs auf mehr als 7 Lira für | |
| den Dollar steigt. Bankenpleiten seien dann unvermeidlich. Was sagen Sie? | |
| Ein solcher Wechselkurs würde erst einmal etliche große Firmen, die große | |
| Dollarschulden haben, in massive Schwierigkeiten bringen. Große türkische | |
| Holdings, wie beispielsweise die vier, die den neuen gigantischen Flughafen | |
| in Istanbul bauen und dafür viel Geld im Ausland geliehen haben, könnten | |
| pleitegehen. Das würde dann im zweiten Schritt natürlich auch die Banken, | |
| mit denen sie zusammenarbeiten, in Schwierigkeiten bringen. Im Unterschied | |
| zur letzten großen Wirtschaftskrise der Türkei 2001 sind jetzt nicht die | |
| Schulden des Staates, sondern die Schulden von Privatunternehmen das große | |
| Problem. Rund 70 Prozent aller Auslandsschulden liegen im Privatsektor. | |
| Angeblich werden bis Mitte 2019 101 Milliarden Dollar Schulden fällig. Das | |
| wäre nur mit neuen Darlehen zu stemmen, aber türkische Firmen finden keine | |
| ausländischen Geldgeber mehr. | |
| Was kann den Zusammenbruch dann noch verhindern? | |
| Die Türkei muss den Internationalen Währungsfonds um Unterstützung bitten. | |
| Nur vom IWF können jetzt noch Kredite in relevanter Höhe kommen. Das sage | |
| nicht nur ich, auch der deutsche Finanzminister hat seinem türkischen | |
| Kollegen das ja bereits nahegelegt. | |
| Jahrelang ist die türkische Wirtschaft unter der Regierung von Erdoğan | |
| enorm gewachsen, die Bevölkerung wohlhabender geworden. Warum klappt es | |
| jetzt nicht mehr? | |
| Zum einen hat Erdoğan damals den Reformplan, den die Vorgängerregierung mit | |
| Unterstützung des IWF auf den Weg gebracht hatte, einfach weiter umgesetzt, | |
| das war wichtig und richtig. Entscheidend aber war, es gab von 2002 bis | |
| 2012 weltweit viel billiges Geld, das Anleger in den Schwellenländern | |
| investiert haben. Erdoğan hat von dieser ökonomischen Ausnahmesituation | |
| sehr profitiert. Dann haben sie allerdings den Fehler gemacht, das Geld | |
| hauptsächlich in den Bausektor und in Infrastrukturprojekte zu stecken, | |
| statt in der Türkei eine Produktion auszubauen, die international | |
| wettbewerbsfähig ist. So war die Türkei nie in der Lage, genug im Ausland | |
| zu verkaufen, sie hat immer mehr importiert als exportiert und war auf | |
| Nachschub an ausländischem Geld angewiesen. Als sich abzeichnete, dass | |
| Anleger ihr Geld wieder eher in den USA investierten, hat die türkische | |
| Regierung keine Vorkehrungen getroffen. Jetzt zeigen alle Indikatoren an, | |
| dass das Wachstum einbricht. | |
| Was tut die Opposition, was machen die Gewerkschaften? | |
| Die Opposition ist uneffektiv und lässt sich von der Regierungspropaganda, | |
| es handle sich um einen Wirtschaftskrieg der USA gegen die Türkei, noch in | |
| die „nationale Pflicht“ nehmen. Die Folgen werden eine steigende Inflation | |
| und höhere Arbeitslosigkeit sein. Auf die Türkei kommt eine Armutswelle zu. | |
| Rechnen Sie damit, dass die Regierung deshalb in Schwierigkeiten gerät? | |
| Nicht wirklich, die meisten Menschen nehmen Erdoğan ja die Erzählung von | |
| der ausländischen Verschwörung gegen die Türkei ab. Außerdem hat der | |
| Präsident ja schon häufiger gezeigt, dass er flexibel ist. Erdoğan wird am | |
| Ende den IWF holen, und wenn das eine Verständigung mit US-Präsident Donald | |
| Trump voraussetzt, wird auch die kommen. Er wird versuchen, Hilfsmaßnahmen | |
| des IWF bis nach den Kommunalwahlen im März 2019 zu verzögern, aber | |
| letztlich kommt die Türkei nicht am IWF vorbei. | |
| 12 Sep 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Jürgen Gottschlich | |
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