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# taz.de -- Kolumne Air de Paris: Widersetzt hatte sich keiner
> Was denken Europäer über andere Europäer? Die Meinungen von Freunden
> lassen nichts Gutes erahnen – Vorurteile prägen die Sicht.
Bild: Sie sprachen über Flüchtlingspolitik, Brexit und die Eurozone: Merkel u…
Jüngst standen Emmanuel Macron und Angela Merkel sehr staatstragend, er in
Blau, sie in Rot, vor der glitzernden Kulisse des Hafens von Marseille und
diskutierten über Migrationspolitik, Rechtsdruck und die kommenden
Europawahlen. Am Samstag begann in Frankreich schon die Praxisarbeit:
Hunderte von „Marcheurs“ wurden ausgesandt, um an diesem Wochenende an
knapp hunderttausend Türen zu klopfen.
Sie sollten mal nachhorchen, wie die Stimmung im Land, also dem Frankreich
außerhalb der Großstädte, ist, was die Leute ganz konkret von Europa und
den Nachbarn halten: Was bedeutet Europa für sie? Was sind ihrer Meinung
nach die positiven, was die negativen Aspekte? Das Naheliegende eben.
Nun weiß man ja, dass Macron dieses Prinzip – „wir denken auch außerhalb
unserer Blase“, „wir wollen auch die Gedanken und Bedenken des einfachen
Mannes verstehen“ – bereits während der Präsidentschaftswahl mit Erfolg
angewandt hatte. Wahrscheinlich funktioniert das auch diesmal gut. Nur
wüsste man, wüsste ich zumindest zu gerne, wie die Antworten auf die Fragen
nach den Nachbarn lauten.
Ich tippe darauf, dass sie oft gruselig sind, was daran liegt, dass ich
mich diesen Sommer sehr gegruselt habe. Es war Ende August, ich besuchte
Freunde auf Korsika, die luden einen weiteren Freund zum Essen ein. Ich
wurde vorgestellt als Halbfranzösin, die für deutsche Zeitungen schreibt.
Bis dahin ging alles gut.
Doch dann begann dieser ältere, eigentlich reizende Mann, als Reaktion auf
meine „germanness“ eine Geschichte zu erzählen, die in etwa so ging: Kurz
nach dem Krieg hatte seine Großmutter eine sehr lange und beschwerliche
Reise auf sich genommen, nur um dem Direktor des Internats, in dem er sich
damals befand, zu verbieten, ihren Enkel in die Deutschklasse zu setzen.
## Die Sprache der Nazis spricht man nicht
„Niemals“, schrie die Dame, „wird er diese Sprache lernen!“ Für diese
Großmutter, so erzählte er, während wir ihn ganz gerührt ansahen, so, als
erzähle er da gerade eine wirklich schöne Geschichte, war die deutsche
Sprache für immer die der Nazis, also eine, die man nicht spricht.
Daraufhin setze eine junge Frau, sie war vielleicht zwanzig, an und spulte
mehr oder weniger das Gleiche ab: Auch ihre Großmutter hatte der Familie
verboten, diese Sprache zu lernen. Widersetzt hatte sich dem keiner.
Ich, die Deutsch-Französin, saß vollkommen fassungslos da und konnte erst
mal nichts sagen, weil ich gar nicht glauben konnte, dass die erste
Assoziation noch immer war: Deutsch = Nazi = schaut man sich lieber von
weitem an. Zumal diese Leute ja nicht den „einfachen Mann“, sondern die
sogenannte Elite repräsentierten. Ich dachte an meine bretonische
Großmutter, die einen Bruder in Buchenwald verloren hatte und gleich nach
dem Krieg nach Deutschland zog und das schlechteste, aber lustigste Deutsch
überhaupt stammelte.
## Andere kämpfen für die deutsch-französische Freundschaft
An meinen elsässischen Großvater, der nach vier Jahren Gefangenschaft das
Gleiche getan hatte und morgens beim Frühstück gerne fragte: „Ich habe die
ganze Nacht überlegt: Wie würde man xy auf Deutsch sagen?“ Oder auch, viel
größer, an Simone Veil, die alles verloren hatte, aber ebenfalls ganz früh
nach Deutschland gegangen war und immer für diese Freundschaft gekämpft
hatte.
Ich dachte: Wie soll denn dieses Europa funktionieren, wenn das die
Geschichten sind, die wir uns erzählen? Es war ja auch gar nicht das erste
Mal, dass ich darüber staunte, wie fremd wir uns eigentlich sind: Einmal
machte ich für ein Frauenmagazin eine Umfrage, was französische Männer von
deutschen Frauen halten. Das Ergebnis war, na ja, sagen wir, skurril.
Deutsche Frauen sind nämlich, vielleicht wussten Sie das noch nicht: sehr
behaart.
Vor allem unter den Achseln. Nun geht es bei dem Europa, über das Merkel
und Macron derzeit viel sprechen, natürlich nicht um Poesie und noch
weniger um Sex, aber Verständnis und Sympathie fängt am Ende doch genau in
diesen Gebieten an. Also da, wo es sinnlich wird. Deshalb könnte man zum
En-marche-Fragebogen vielleicht eine Frage hinzufügen: Ein Europa des
Geistes und der Sinne, wie machen wir das?
15 Sep 2018
## AUTOREN
Annabelle Hirsch
## TAGS
Schwerpunkt Emmanuel Macron
Europa
Schwerpunkt Angela Merkel
Deutsch-französische Freundschaft
Emmanuel Macron
Yves Saint Laurent
Schwerpunkt Brexit
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