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# taz.de -- Debatte Autoritarismus in Brasilien: Tragödie mit Ansage
> Aktivistinnen werden mit dem Tod bedroht, Armut kriminalisiert. Eine neue
> Welle des Autoritarismus überrollt Brasilien.
Bild: Beim vierten Marsch Schwarzer Frauen in Rio de Janeiro demonstrieren Teil…
[1][Der argentinische Senat enttäuschte kürzlich Millionen Frauen,] die auf
die Entkriminalisierung von Abtreibungen gehofft hatten. In nur wenigen
Ländern oder Regionen Lateinamerikas ist der freiwillige
Schwangerschaftsabbruch legal und kostenfrei, etwa in Uruguay, Kolumbien,
Puerto Rico, Guyana, Kuba und Mexiko-Stadt. Obwohl es in Argentinien nun
eine Niederlage gab, ist die Umkehr dieser Entscheidung nur eine Frage der
Zeit, da das Endergebnis mit 38 Stimmen gegen und 31 für die Legalisierung
der Abtreibung denkbar knapp ausfiel.
Es wird erwartet, dass die Regierung Macri dem Parlament in nächster Zeit
einen Gesetzesentwurf zusendet, um die Gefängnisstrafe für illegale
Abtreibungen aus dem Strafgesetzbuch zu streichen.
Im Kontext des hochpolitischen Diskurses, der die argentinische
Gesellschaft prägte, wurde die Abtreibungsfrage auch in Brasilien
diskutiert – und brachte die Macht des konservativen Lagers zum Vorschein.
Die linke Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL) reichte zusammen mit einer
Nichtregierungsorganisation einen Antrag beim Verfassungsgericht ein. Der
Antrag fordert die Entkriminalisierung des freiwilligen
Schwangerschaftsabbruchs bis zur 12. Schwangerschaftswoche, was viele arme
und schwarze Frauen, die besonders unter der Strenge des Gesetzesvollzuges
leiden, entlasten würde.
Im Zuge der Sitzung wurden 60 ExpertInnen der unterschiedlichsten
Disziplinen angehört, darunter Debora Diniz, Anthropologin und Aktivistin
für Frauenrechte. Aufgrund der Drohungen von rechtsextremen Gruppen und
Abtreibungsgegnern musste sie das Land verlassen. Als sie zurückkehrte, um
bei der öffentlichen Anhörung auszusagen, wurde Diniz mit Todesdrohungen
konfrontiert. Derzeit steht sie unter Polizeischutz und muss womöglich
erneut ins Ausland fliehen.
Der Fall Diniz ist keine Ausnahme. Der seit fünf Monaten [2][nicht
aufgeklärte Mord an der schwarzen Stadträtin,] Feministin und
Menschenrechtsaktivistin Marielle Franco, die ebenfalls der PSOL-Partei
angehörte, und ihrem Mitarbeiter Anderson Gomes zeigt, dass konservative
und rechtsextreme Kräfte ihren Wirkungsbereich in Brasilien ausdehnen
konnten.
Seit den Junidemonstrationen 2013, als Tausende in Brasilien auf die Straße
gingen, um gegen das etablierte politische System und die fehlende
Infrastruktur in den Städten zu protestieren, hat die staatliche Repression
rapide zugenommen. Während der Proteste gab es eine Vielzahl von
Verhaftungen. Im August 2013 verabschiedete das Parlament ein Gesetz zu
kriminellen Organisationen. Es soll eigentlich Menschen bestrafen, die sich
versammeln, um Verbrechen zu begehen, diente aber in der Praxis dazu,
politische Proteste zu kriminalisieren.
## Autoritäre Welle
Zum Ende der Amtszeit der Regierung von Dilma Rousseff kam ein
Antiterrorgesetz hinzu. In einem Land, das noch nie einen Terroranschlag
erlitt, ist dieses neue Gesetz zu einem weiteren Instrument der
Unterdrückung sozialer Bewegungen geworden.
Im Jahr 2016 wurde das Land von einer erneuten autoritären Welle überrollt,
die in einem parlamentarischen Putsch gipfelte. Antidemokratische Kräfte
nutzten Lücken in der brasilianischen Verfassung, um die demokratisch
gewählte Präsidentin zu stürzen. In den letzten zwei Jahren führte die
Regierung Michel Temers – die weithin als illegitim angesehen wird –
Sparprogramme ein, darunter eine Obergrenze für Sozialausgaben für die
nächsten 20 Jahre sowie die komplette Flexibilisierung der
Arbeitsverhältnisse.
Auf die soziale Unzufriedenheit wurde mit Maßnahmen zur öffentlichen
Sicherheit reagiert, die rhetorisch ein Minimum an sozialem Konsens
anstreben, aber in Wirklichkeit den repressiven Staat stärken. Unter dem
Vorwand der Bekämpfung des Drogenhandels in Rio wurde den Streitkräften die
Kontrolle über die Polizei erteilt. Diese Militäreinheiten verfügen über
Ausnahmegenehmigungen zum Schutz der Soldaten, die in Slums vordringen und
„Verdächtige“ töten. Jüngsten Erhebungen zufolge wurde seit Beginn der
Militärintervention bei Zusammenstößen mit der Polizei alle sechs Stunden
eine Person umgebracht.
Die Kriminalisierung der Armut geht einher mit der Unterdrückung des
politischen Aktivismus: 23 Jugendliche, die an den Protesten von 2013
teilnahmen, wurden kürzlich unter dem Vorwurf des organisierten Verbrechens
mit bis zu sieben Jahren Gefängnis bestraft. Ihr eigentliches „Verbrechen“
bestand jedoch nur darin, auf der Straße zu demonstrieren.
## Homophob und sexistisch
Der staatliche Autoritarismus und die Zunahme rechtsradikaler Gruppen haben
ihre Stimme in einem Präsidentschaftskandidaten gefunden: Jair Bolsonaro.
[3][Der ehemalige Hauptmann ist homophob und sexistisch,] ein offener
Verteidiger der Folter, Gegner von Inklusions- und Einwanderungspolitik und
ein Befürworter der Todesstrafe, des uneingeschränkten Waffenverkaufs und
der Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters.
Nach aktuellen Prognosen für die Präsidentschaftswahlen im Oktober dieses
Jahres kommt Bolsonaro auf fast 18 Prozent der Stimmen und belegt damit, je
nach Umfrage, den ersten oder zweiten Platz in der Wählergunst.
Durch die Zunahme staatlicher Gewalt hat sich der Spielraum für kritische
Äußerungen und gesellschaftliche Veränderungen drastisch verkleinert. Das
rechtsextreme Lager hingegen konnte seinen Einfluss deutlich steigern. Die
Abtreibungsfrage veranschaulicht das sehr gut.
Vor dem Hintergrund des Regierungsstreichs und der Unterdrückungsmaßnahmen
konnte die brasilianische Debatte das Niveau der Massenmobilisierung in
Argentinien nicht erreichen. Trotzdem werden hierzulande sogar
Todesdrohungen benutzt, um die erstarkende Frauenbewegung zu blockieren. In
Brasilien erleben wir nicht nur einen gesellschaftlichen Rückschritt,
sondern eine Tragödie, die sich lange angekündigt hat.
27 Aug 2018
## LINKS
[1] /Abstimmung-in-Argentiniens-Senat/!5526951
[2] /Mord-an-brasilianischer-Lokalpolitikerin/!5500651
[3] /Praesidentschaftswahl-in-Brasilien/!5520178
## AUTOREN
Guilherme Leite Goncalves
Lena Lavinas
## TAGS
Autoritarismus
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