# taz.de -- Para-Leichtathletik-EM in Berlin: Ein gewisses Interesse | |
> Bei der Leichtathletik-EM in Berlin spüren die Sportlerinnen bei jedem | |
> Blick auf die Tribünen, dass ihnen die wahre Anerkennung noch fehlt. | |
Bild: Satz zu Silber: Katrin Müller-Rottgardt beim Weitsprung | |
BERLIN taz | Die Haupttribüne ist voll. Mit Kindern. Ansonsten herrscht an | |
diesem Mittwochvormittag gähnende Leere im Berliner Jahn-Sportpark. Es ist | |
[1][Europameisterschaft] – und keiner geht hin. Ganz so schlimm ist es | |
natürlich nicht. Am Abend füllt sich das Stadion schon ein bisschen, es | |
kommen sogar Zuschauer, die für ihre Tickets gezahlt haben. Die kosten 5 | |
Euro und im teuersten Fall 20; bei einer Rabattaktion gingen die Karten | |
sogar für 2,50 Euro weg. | |
Aber immerhin: Die Kinder machen Lärm, das können die Berliner Kids ja ganz | |
hervorragend, weswegen es ihnen auch schwerfällt, bei den blinden | |
Sprintern, die von einem Kopiloten begleitet werden, ruhig zu sein. „Sch, | |
sch“, zischelt die Stadionsprecherin immer wieder. Es dauert lang, bis die | |
Meute verstummt. | |
Katrin Müller-Rottgardt hat die Ausgelassenheit der Schüler ganz gut | |
gefallen. „Das war eine große und tolle Stimmung mit den ganzen Kindern“, | |
sagt die Athletin, die am Mittwoch schon ihre zweite Medaille bei dieser EM | |
gewonnen hat: nach Gold im 100-Meter-Sprint nun Silber im Weitsprung hinter | |
der Spanierin Sara Martinez. Müller-Rottgardt hat eine Behinderung, die in | |
der paralympischen Leichtathletik das [2][Kürzel T12] trägt. Diese Athleten | |
sind sehbehindert, erkennen die Welt nur schemenhaft, so als schauten sie | |
durch eine Milchglasscheibe. | |
Auf den Sprintdistanzen wird die 36-Jährige deswegen auch von einem | |
Mitläufer begleitet. In ihrem Fall ist das der ehemalige Topsprinter | |
Alexander Kosenkow, der durchaus gefordert ist, denn Müller-Rottgardts | |
Bestzeit liegt bei 11,99 Sekunden, das ist eine mehr als respektable Zeit. | |
## Vorbild England | |
Die Schüler mögen Rabatz gemacht haben, zufrieden ist die Physiotherapeutin | |
aus Wattenscheid, die schon bei den Paralympics 2004 in Athen an den Start | |
gegangen ist, damit noch lange nicht. „Der paralympische Sport ist gerade | |
in Deutschland noch ein bisschen im Hintergrund“, klagt sie. „Da sind uns | |
die Briten ein ganzes Stück voraus.“ Die WM 2017 in London war gut besucht; | |
die Briten unterscheiden nicht mehr so trennscharf zwischen einer Para-WM | |
und einer WM. | |
„Es ist schwierig, die Aufmerksamkeit hierher zu lenken, in Berlin ist ja | |
so viel los“, sagt der Pressesprecher des Deutschen | |
Behinderten-Sportverbands, Kevin Müller. Aber da gehe bestimmt noch etwas. | |
Ihm schwebt eine Kulisse von 5.000 Zuschauern am Abend vor. „Viele | |
verlassen das Stadion sehr beeindruckt“, hat er gehört, und bei der EM der | |
Nichtbehinderten im Berliner Olympiastadion sei der Knoten ja auch erst | |
später geplatzt. | |
Da saßen dann 50.000 Zuschauer abends im Olympiastadion. Jetzt sind es | |
vielleicht 800, die den Erfolg der deutschen Kugelstoßerin Hanna Wichmann | |
in der Klasse F32 bejubeln. Die Rollstuhlfahrerin, die seit Geburt an einer | |
spastischen Lähmung aller Extremitäten leidet, gewinnt Bronze mit einer | |
Weite von 4,45 Meter: „Ich bin froh, dass ich das so gut hinter mich | |
gebracht habe“, sagt sie gleich mehrmals. | |
## 650 Euro Sportförderung | |
Daran, dass die vielen bunten Sitzschalen im 24.000 Zuschauer fassenden | |
Stadion in Prenzlauer Berg allesamt besetzt werden, glaubt Katrin | |
Müller-Rottgardt nicht. Sie ist schon zu lange dabei und weiß, dass es nur | |
sehr langsam und schrittweise voran geht im Behindertensport. Über jeden | |
kleinen Fortschritt ist sie froh. „Vor ein paar Jahren standen nur die | |
Paralympics im Fokus, jetzt gibt es auch ein gewisses mediales Interesse an | |
einer EM oder WM.“ Das Fernsehen berichtet mehr und mehr, was | |
möglicherweise Sponsoren anlocken könnte. Hofft die Sprinterin. | |
Sie arbeitet 15 Stunden als Physiotherapeutin. In ihrem Zweitjob trainiert | |
sie achtmal pro Woche auf der Tartanbahn und bekommt dafür 650 Euro. 500 | |
als Mitglied des sogenannten [3][Topteams Tokio], in dem 30 Athleten | |
speziell vom Verband gefördert werden. 150 Euro kriegt sie als | |
A-Kader-Athletin von der Deutschen Sporthilfe. „So konnte ich meine Stunden | |
auf Arbeit reduzieren“, sagt sie, „aber noch schöner wäre es, wenn wir au… | |
ein bisschen von unserem Sport leben könnten.“ | |
23 Aug 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://para-euro2018.eu/ | |
[2] https://www.dbs-npc.de/leistungssport-klassifizierung.html | |
[3] https://www.deutsche-paralympische-mannschaft.de/de/news/detail/n_action/sh… | |
## AUTOREN | |
Markus Völker | |
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