# taz.de -- Leichtathletik-Europameisterschaft: Speer-Spitzen | |
> Hinter Thomas Röhlers Goldmedaille zeigt sich eine deutsche Dominanz im | |
> Speerwerfen. Sie besteht aus drei Sportlern mit perfekter | |
> Rollenverteilung. | |
Bild: Ein Triumph der Speergermanen: Röhlers Goldwurf | |
Berlin taz | Der letzte Speer schwebt. Er sieht von den Rängen des | |
Olympiastadions ein bisschen aus wie eine Nähnadel oder ein Mikadostab, | |
der auf einer vorgegebenen Bahn gleitet, ganz langsam die Luft | |
durchschneidet, sich dann plötzlich senkt und in den Rasen bohrt wie in | |
einen weichen Mettigel. | |
Ästhetisch befriedigend. Weit, aber nicht ganz bei den 89,14 Metern, mit | |
denen Thomas Röhler vorher schon seinen Europameistertitel klargemacht hat. | |
„Wie es das Publikum zum Raunen bringt, wenn dieser lange, majestätische | |
Flug passiert“, hat Röhler jüngst gesagt. Der 26-Jährige kann solche Sätze | |
unvermittelt in Interviews streuen, vielleicht gefällt ihm die kurze | |
Irritation beim Gegenüber, den Ruf eines intellektuellen Querkopfs hat er | |
längst. Er spricht mit einer unterkühlten Präzision, dem jeder Versuch von | |
Pathos verdächtig ist. „Speerwurf ist eine Geschichte ohne Feindkontakt“, | |
auch das so ein Röhler-Satz. Der letzte Speer ist sein liebster, weil es da | |
ums Ganze geht. Nur du und deine Hoffnungen und der Speer. | |
In diesem letzten EM-Wurf ausgerechnet ist der letzte Speer zutiefst egal, | |
Röhler ist schon Europameister. Hinter ihm weint Andreas Hofmann wilde | |
Freudentränen über Silber. Aber Röhler will jetzt noch einmal so werfen, | |
als ob es ums Ganze ginge. Die schmalen Lippen zusammengekniffen, die Stirn | |
geknausert, als stünde er noch auf Platz 6. Das Publikum raunt. Die 89,14 | |
Meter werden schließlich sein goldener Wurf bleiben, weiter kommt er nicht, | |
Hofmann holt mit 87,60 Metern Silber. Und da lässt Thomas Röhler alles los, | |
wirft sich mit vollem Schwung in den Wassergraben, brüllt die Gefühle raus. | |
Der amtierende Olympiasieger ist auch Europameister, der erste deutsche | |
Speerwurf-Europameister seit Klaus Tafelmeier vor 32 Jahren. | |
Röhler, Hofmann, Vetter, drei deutsche Speerwurfstars, eine irre Dominanz. | |
Der Este Magnus Kirt auf Bronze war der Einzige, der diesen Kraftprotzen | |
ernsthaft etwas entgegenzusetzen hatte. Und hätte Weltmeister und | |
Weltjahresbester Johannes Vetter, der in der Qualifikation noch 87 Meter | |
warf und das etwas übermütig als „Sicherheitswurf“ bezeichnete, nicht ein… | |
völlig verkorksten Abend und Platz 5 erwischt, wäre ein deutsches Podest | |
beinahe zwangsläufig gewesen. Das deutsche Trio führt die | |
Weltjahresbestenliste an, an einem guten Abend kann jeder der drei | |
Europameister werden. Aber warum kam das bloß? | |
Der Speerwurf hat eine täuschende Selbstverständlichkeit: Er sieht ein | |
bisschen wie bei „Asterix bei den Olympischen Spielen“, wo Menschen mit | |
Popeye-dick geschwellten Muskeln möglichst kräftig und weit werfen, und | |
dann brüllen sie neanderthalesk und schlucken noch eine Dose Spinat. Eine | |
Steinzeitsportart, nur du und der Speer – könnte man meinen. | |
## Physik und Reißfestigkeit | |
In Wahrheit aber erfordert Speerwurf so viele technische Finessen – | |
richtiger Abflugwinkel, richtige Abfluggeschwindigkeit, Würfe, die nicht zu | |
hoch steigen und nicht zu schnell fallen, hohe Spannung beim Abwurf, exakte | |
Technik, ein zutiefst komplexes Werk der Physik. Der in dieser Hinsicht | |
beste Athlet ist einmal mehr Thomas Röhler. „Ich habe heute gewonnen, weil | |
ich technisch korrekt und präzise geworfen habe“, bilanzierte er. Er warf, | |
und er wollte die Würfe genau so haben. | |
Röhler hat sich über die Jahre eine mentale Reißfestigkeit erkämpft. | |
Ungültige Würfe rühren ihn nicht mehr. Im Gegensatz zu Johannes Vetter, der | |
im Finale mit jedem misslungenen Wurf immer wildere technische Sperenzchen | |
versuchte, blieb Röhler stur bei Schema A. In der Qualifikation ging das | |
fast schief, erst mit dem letzten Wurf kam er ins Finale. Der letzte, wie | |
so oft, die Lust am Spiel mit dem Feuer. | |
Würde man die drei Speerwurfgermanen für einen Western casten, dann wäre | |
Johannes Vetter der Haudrauf-Revolverheld, Andreas Hofmann der strahlende | |
Gute-Laune-Cowboy und Thomas Röhler der präzise Scharfschütze. Die Medien | |
haben ihre Freude an den drei unterschiedlichen Typen, die aber mehr | |
Gemeinsamkeiten zeigen, als ihnen üblicherweise attestiert wird: Charisma, | |
viel Intelligenz und ein lautes Selbstbewusstsein mit Hang zum Übermut. | |
Vor zehn Jahren war Thomas Röhler im Berliner Olympiastadion noch um die | |
U18-Meisterschaft im Dreisprung angetreten. Springen, so sagte er, habe er | |
gern gemacht, aber nie geliebt. Seine Liebe war das Werfen. So intensiv wie | |
keiner seiner Konkurrenten hat sich Röhler mit den physikalischen Aspekten | |
des Speerwurfs auseinandergesetzt, hat zusammen mit der Universität Jena | |
daran gefeilt, Flugkurven und Winkel noch genauer zu berechnen, noch mehr | |
Weite herauszuholen. Einer, der besessen dazu lernt, pedantisch prüft. | |
## Hier wirft der neue Harting | |
„Man lernt im ersten Semester, dass Sport über Reize funktioniert“, sagt | |
Thomas Röhler nach der Goldmedaille. „Man muss immer neue Ideen haben, | |
kreative Dinge ausprobieren, und da gehören auch verrückte Dinge mit dazu.“ | |
Was er mit seinem Trainer probierte, das habe nicht jeder verstanden. Das | |
habe auch nicht immer funktioniert. Aber es funktionierte im entscheidenden | |
Moment. | |
Als Hürdenläuferin Cindy Roleder kürzlich gefragt wurde, wer den neuen | |
Harting in der Leichtathletik machen könne, da sagte sie: Thomas Röhler. | |
Das ist nicht abwegig. Er hat den Intellekt dazu, dazu etwas Unbequemes, | |
die Lust an Konfrontation, auch wenn Röhler dabei immer etwas nach | |
Klassensprecher klingt. | |
Er sehnt sich nach Herausforderungen jenseits des Sports: Thomas Röhler | |
machte erst einen Bachelor in Wirtschaft und Sport, jetzt setzt er einen | |
Master drauf. „Ab dem vierten Semester habe ich das Studium stark zum | |
persönlichen Wissenserwerb gelebt und bin weniger dem | |
Pflichtmusterstudienplan gefolgt“, sagt er – das könnte ein Harting-Satz | |
sein. „Damit wollte ich noch nicht aufhören.“ Röhler, Athletensprecher im | |
Weltverband, beklagte jüngst, wie groß die finanzielle Schere zwischen | |
Leichtathletik und Fußball ist. Er wolle den gesellschaftlichen Kampf | |
aufnehmen, „den Wirtschaftskreislauf ein wenig umzuverteilen“. Einer, der | |
meistens groß träumt. | |
Und gleichzeitig gibt es neben Röhler noch eine andere Geschichte eines | |
Mannes, der groß geträumt hat, auf seine ganz eigenen Art. Andreas Hofmann, | |
amtierender Deutscher Meister, hat sich im letzten Jahr in den Zweikampf | |
zwischen Röhler und Vetter geschoben, kaum jemand hatte das erwartet. Viele | |
unterschätzten ihn. Jetzt hat er Silber geholt. Was Röhler an Kühle hat, | |
packt Hofmann an Temperatur drauf. Manchmal erinnert er an einen | |
begeisterten Welpen, jeder Satz endet mit herzhaftem Lachen, jeder zweite | |
Satz ein Späßchen. „Man muss sich hier einfach mittragen lassen, das | |
aufsaugen, dem Speer mitgeben“, sagt er nach dem hochklassigen Finale. | |
Hofmann wurde früher „als Kraftwerfer“ gezählt. Aber hat an seiner Technik | |
gearbeitet, Schulterbeweglichkeit geübt, viel mit leichten Speeren | |
trainiert. Und im EM-Finale warf Andreas Hofmann seine Weiten mit | |
eindrucksvoller Konstanz. | |
Wie er sich selbst sieht, beschrieb er in einem Video so: „Eine schnelle | |
Kompaktklasse.“ Er hat von Vetter und Röhler gelernt, aber etwas ganz | |
Eigenes daraus gemacht. | |
Vielleicht ist vor allem das der Schlüssel: die verstärkte Zusammenarbeit | |
der deutschen Speerwerfer. Athleten und Trainer berichteten einstimmig, man | |
trainiere zwar an getrennten Orten, habe aber seit etwa vier Jahren | |
begonnen, sich unter den Trainern intensiver auszutauschen. „Die | |
Trainerkollegen sind jetzt offener, und der Austausch ist ehrlicher | |
geworden“, sagte Speerwurftrainer Boris Obergföll. „Das ist ein | |
Riesenvorteil im Vergleich zu anderen Ländern.“ Sie sehen sich als | |
Konkurrenten, aber sie sammeln und öffnen das Wissen und lernen begierig | |
voneinander. Eine innerdeutsche Bibliothek des Speerwurfs. Und dann gehen | |
sie raus und eigene Wege. Man sieht sich beim Wettkampf. | |
10 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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