# taz.de -- In Westdeutschland vor 40 Jahren: In meinem früheren Leben | |
> Kleinfamilienglück für die, die es geschafft hatten: Sehr deutsch und | |
> homogen ging es zu in der Vorstadtsiedlung bei Kiel. Eine Reise in die | |
> Kindheit. | |
Bild: Das Elternhaus: Ein paar Stufen die Treppe herunter, und der Schulweg beg… | |
RAMMSEE taz | Wie neu alles damals gewesen sein muss. Die Häuser, die | |
Straßen, die Gärten, die Freiheiten, aber auch die Sinnkrisen – alles neu. | |
Und ich war fünf und mit der Kannregelung vorzeitig eingeschult worden. | |
Mein erster Schulweg (von dem ich hier erzählen möchte) begann dort, wo die | |
Seitenstraße, in der wir lebten, endete: an einem Wendehammer. Fünf, sechs | |
Stufen führten von der Eingangstür unseres Einfamilienhauses zur Straße | |
hinunter. An einem dieser stressig heißen, fast windstillen Tage, an denen | |
dieser Sommer bislang so reich ist, war ich jetzt wieder einmal dort. | |
Und dann steht man halt in seinem früheren Leben. Was soll ich sagen? Dass | |
mir hier alles vertraut vorkam, ist ja logisch; schließlich bin ich hier | |
aufgewachsen. Ich habe mir aber gleich noch eine andere Frage gestellt: | |
Seit wann ist mir das alles eigentlich gleichzeitig so fremd vorgekommen? | |
Seit ich hier weggezogen bin? Seit der Pubertät, in der mir dieser Vorort | |
trotz oder vielleicht auch wegen seiner Idylle spießig vorkam, saturiert | |
und seltsam? Um es mit Salingers „Fänger im Roggen“ zu sagen: phony. Oder | |
vielleicht sogar schon von Anfang an, seit wir hier eingezogen sind? | |
## Einzug „in die eigenen vier Wände“ | |
Meine Eltern waren mit mir, meinen drei Geschwistern und unserem Großvater | |
zu meiner Einschulung in den Vorort gezogen. „Ins Grüne“, wie es hieß. Od… | |
auch: „in die eigenen vier Wände“. Magische Formeln waren das, ganze | |
Lebensentwürfe schienen in ihnen auf. Sozialaufstieg, Kleinfamilienglück, | |
das alles schwang mit. | |
Bis dahin hatten wir mitten in Kiel gewohnt, in den hinteren Räumen einer | |
Altbauwohnung, in deren Vordertrakt die Rechtsanwaltskanzlei meines Vaters | |
lag. Nun fingen gleich hinter unserem Grundstück Felder an und Wiesen. | |
Sanft gehügelt, von sogenannten Knicks, also niedrigen Baumreihen | |
durchzogen, dehnte sich die Endmoränenlandschaft Schleswig-Holsteins aus. | |
Es gab eine Kiesgrube, Zuckerrüben, Kühe und Raps, Brombeerbüsche, Schlehen | |
und einen kleinen, zu drei Vierteln ausgetrockneten Teich, den ich – der | |
Baumwurzeln wegen, die in dem Morast steckten und auf denen man von einer | |
zur anderen hüpfen konnte – 37-Insel-See getauft hatte. Eine Kindheit mit | |
Tom-Sawyer-Anmutung war hier möglich: einfach raus aus dem Haus und in die | |
Büsche schlagen. Wenn ich nicht immer auch ein Stubenhocker gewesen wäre. | |
## „Der Ernst des Lebens“ ab 7:40 Uhr | |
Doch an Entdeckungen und Abenteuer war morgens um 7:40 Uhr nicht zu denken. | |
Der „Ernst des Lebens“ hatte begonnen (noch so eine Formel). Ich trug | |
meinen Schulranzen auf dem Rücken, samt Pausenbrot und | |
Brunnen-Schreiblernheften. Vor mir lag die tägliche viertelstündige | |
Odyssee, die mit dem Klingeln der Schulglocke erst im Klassenraum der 1a an | |
meinem Platz enden würde. | |
An dem Wendehammer steigen mir nun wie von selbst die Namen unserer | |
Nachbarn in den Sinn. Es gab die R.s, die W.s, die H.s, die S.-K.s, die | |
L.-F.s. Niemand ist zu sehen. Die Stille ist, aus der Großstadt kommend, | |
überwältigend. Nur im Garten der H.s jubiliert eine Geige. Klassik-Radio. | |
Ein paar fettweiße norddeutsche Wolken treiben vor tiefblauem Himmel. | |
Was für Leute sind damals hierhin gezogen? Leute, die es geschafft hatten. | |
Zu 95 Prozent protestantisch. Kein Migrationshintergrund, nirgends. In der | |
Regel hatten sie Kinder, manchmal einen Hund, meistens zwei Autos. Von | |
heute aus gesehen wirkt die Nachbarschaft unglaublich homogen. Damals | |
fühlte es sich anders an. Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen | |
haben die Häuser gekauft, manchmal selbst gebaut. | |
Manche waren die Erben eines Familienunternehmens, das sie jetzt | |
weiterführten. Andere stammten aus bildungsbürgerlichen Verhältnissen und | |
waren jetzt Professor oder gleich Uni-Präsident (er wohnte am Ende unserer | |
Seitenstraße). Viele waren innerhalb ihrer Familie aber auch die Ersten | |
überhaupt, die studieren konnten. Aus den Arbeitervierteln der Werft- und | |
Marinestadt Kiel oder den bäuerlichen Strukturen der umliegenden Dörfer | |
hatten sie sich herausgearbeitet – und die typischen | |
Aufsteiger-Unsicherheiten noch mitgenommen: Wie benehme ich mich richtig im | |
Restaurant, wann klatscht man im klassischen Konzert? Oder sie waren, wie | |
meine Mutter, Kinder von Flüchtlingen aus dem Krieg. | |
Und dann fanden sie sich alle hier in ihren Einfamilienhäusern wieder, | |
Gartenzaun an Gartenzaun (irgendwann Anfang der Achtziger wurden die | |
Jägerzäune allerdings abgerissen, man wäre auch so nie auf die Idee | |
gekommen, das Nachbargrundstück zu betreten). Ihre eigene kleine Familie, | |
das war der Bezugsrahmen dieser Erstbewohner und Vorortpioniere. | |
Untereinander mussten sie sich erst kennenlernen. Soziale Strukturen, | |
gewachsene Traditionen, all das gab es erst einmal noch nicht. | |
## Auf den Straßen ist bis heute nichts los | |
Die Müllabfuhr kommt. Die Müllmänner schwitzen, ich schwitze allein schon | |
vom Zusehen, selbst der große, kreischende Müllwagen scheint zu schwitzen. | |
Sonst sehe ich immer noch keinen Menschen. Es ist Ferienzeit. Es war aber | |
auch immer schon so: Auf den Straßen war nie etwas los, deshalb war man ja | |
auch hierhin gezogen. Die Erwachsenen saßen drinnen, in den Einbauküchen | |
und in ihren Wohnzimmern oder hinter den Häusern in ihren Gärten. Ich habe | |
die meisten erwachsenen Nachbarn tatsächlich immer nur in ihren Autos | |
kommen und wegfahren gesehen und sonst höchstens mal Rasen mähen. Danach | |
verschwanden sie immer gleich wieder hinter den Eingangstüren. | |
Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Im Kontrast zu den teilweise | |
prächtigen Häusern sehen die schmalen Bürgersteige lieblos aus, als ob der | |
Gestaltungswille, der sich an den Grundstücken liebevoll austobte, an den | |
Grundstücksgrenzen abrupt abgebrochen ist. Auf den selten befahrenen | |
Straßen spielten auch damals schon höchstens die Kinder. Die Jungs Fußball, | |
die Mädchen Gummitwist. | |
Ich wurde 1963 geboren, in einem der letzten geburtenstarke Jahrgänge der | |
alten Bundesrepublik, bevor der Pillenknick einsetzte. Wir waren noch keine | |
Wunschkinder in heutigem emphatischen Sinn. Bei Familienfeiern saßen wir | |
noch am Katzentisch. Kinder zu bekommen war das Normale, der Standard, die | |
Norm. Für Frauen sowieso. Aber auch für Männer. Ältere Junggesellen haftete | |
etwas Verschrobenes an, auch etwas diffus Unstatthaftes. Darauf, dass sie | |
schwul sein könnten, kam man einfach nicht – und sie selbst wohl auch | |
manchmal nicht, bei einem meiner früheren Lehrer stelle ich es mir | |
nachträglich so vor. | |
Niemand der vielen anderen Kinder in unserer Seitenstraße ging mit mir in | |
die gleiche Klasse. Vielleicht habe ich deshalb an diesen ersten Teil | |
meines Schulwegs nur undeutliche Erinnerungen. Ich werde hindurchgeschlurft | |
sein und mir Sorgen gemacht haben. Ob ich J. treffe? Ob M. vielleicht sogar | |
auf mich wartet? Und was mache ich, wenn B., die ich nicht mochte, weil sie | |
doof war, zufällig genau dann aus der Tür kommt, wenn ich gerade auf der | |
Höhe ihres Elternhauses bin? Wer neben wem geht, das war eine existenzielle | |
Frage. | |
## Im Asphalt von damals klaffen Risse von heute | |
Mehr Erinnerungen setzen ein, als ich rechtsherum in die Verbindungsstraße | |
einbiege. Wie von einem lässigen Gott wurde sie in einem langgezogenen S | |
auf einen der Hügel südlich von Kiel gesetzt, alle 200 Meter gehen die | |
Seitenstraßen von ihr ab. Den Bordstein bin ich damals, oft mit einem Fuß | |
auf der Straße, entlanggehüpft. Der Straßenbelag ist in einem für die | |
Kaufkraft der Gegend erbärmlichen Zustand. Risse klaffen im Asphalt. An | |
einer Stelle wuchert sogar Gras durch die Straße. | |
An der nächsten Ecke hat M. gewohnt. M. durfte zu Hause kein Fernsehen | |
gucken, ich durfte zu Hause keine Comics lesen. Also haben wir uns nach der | |
Schule bei mir zum Fernsehen und bei ihm zum Comiclesen getroffen. Beides | |
war wichtig. Fernsehserien wie „Time Tunnel“ oder „Raumschiff Enterprise�… | |
waren eine Zeit lang, als ich etwas größer geworden war, das | |
Allerwichtigste auf der Welt: Sie boten Gelegenheiten, sich aus dem Vorort | |
herauszuträumen. Unsere Mutter hätte ankündigen können, dass Weihnachten | |
dieses Jahr ausfällt – das hätten wir vielleicht sogar noch geschluckt. | |
Aber wenn wir Spock und Captain Kirk nicht hätten sehen dürfen, dann wäre | |
die Hölle losgewesen. | |
M.s Vater hat mich damals beschäftigt. Er funktionierte, denke ich heute, | |
als Gegenentwurf zu meinem eigenen Vater, der, 1919 geboren, noch etwas | |
Patriarchales hatte und aus einer ganz anderen Zeit zu kommen schien. Der | |
Zweite Weltkrieg hatte sich meinem Vater in den Körper eingeschrieben: Ihm | |
fehlte der linke Arm. Und die Nazizeit war bei ihm noch keine bewältigte | |
Vergangenheit: Mit der deutschen Niederlage und der daraus folgenden | |
Teilung hat er sich nie abgefunden, bis er schon 1973 starb. | |
Das alles war Privatsache und blieb in der Familie, man sprach nicht | |
darüber. Aber immer wieder lugte die Vergangenheit doch hervor in der so | |
dichten und so idyllischen Gegenwart des Vororts, und als ich, Jahre | |
später, in einem Essay des Autors Stephan Wackwitz auf den Begriff | |
„Hamletgefühl“ stieß, leuchtete er mir sofort ein: Ja, etwas war faul | |
damals in Rammsee … | |
## Nicht nur an der Vergangenheit war etwas faul… | |
So erinnere ich mich daran, wie meine Tante unschuldig lachend auf einem | |
Familienfest einmal davon erzählte, wie schwierig es war, den richtigen | |
Zeitpunkt zu bestimmen, wann man die Hitlerbüste hinter dem Haus vergraben | |
sollte. Tust du es zu früh und kommt es heraus, kann es in der | |
Dorfgemeinschaft zu Problemen führen. Tust du es zu spät, könnten die | |
heranrückenden britischen Soldaten darauf stoßen. | |
Aber nicht nur die Vergangenheit war faul, die Gegenwart war es auch. | |
Stundenlang habe ich damals auf die Tabellen in der Zeitung gestarrt, auf | |
denen, symbolisiert durch blaue und rote Soldaten-, Panzer- und | |
Flugzeug-Grafiken, die Kampfkraft der Nato und des Warschauer Paktes | |
gegeneinander abgewogen wurden. Eine Million Soldaten standen in der alten | |
Bundesrepublik, in der DDR auch eine Million. Die Grenze war nicht wirklich | |
weit weg. Und nichts davon spiegelte sich hier im Vorort wider! Das konnte | |
doch eigentlich gar nicht sein. | |
M.s Vater dagegen hatte etwas ungeheuer Ziviles. Ich erinnere ihn mit | |
zurückgekämmten Haaren, in Cordhosen und auch mit Cordhut. Er war | |
Gymnasiallehrer, glaube ich, und er könnte sogar SPD gewählt haben, in | |
unserem Vorort, in dem die CDU eine überragende Mehrheit hatte. In der | |
Erinnerung gerät er mir fast zu einer idealtypischen Figur der alten | |
Bundesrepublik: redlich, ein bisschen langweilig, alles normal. | |
Von heute aus kommt er mir allerdings leicht wundgescheuert vor Normalität | |
vor. Das Neue des Vororts musste sich gegen die meistens beschwiegene, aber | |
doch diffus drückende Vergangenheit behaupten. | |
## Die Vorstadtsiedlung als Lebensform | |
Mit den Augen von heute gesehen würde er mir wahrscheinlich auch | |
unglaublich jung vorkommen. Bis auf meinen eigenen Vater waren die | |
Erwachsenen damals alle unglaublich jung – Mitte, Ende dreißig, höchstens | |
Anfang vierzig – und dabei doch auf eine Weise in ihrem Leben fertig und | |
abgeschlossen, wie man es sich heute, glaube ich, gar nicht mehr richtig | |
vorstellen kann. Sie hatten gedacht, dass sich nun nichts mehr ändern würde | |
in ihrem Leben, sie selbst nicht, ihre Ehe nicht – nur die Kinder würden | |
irgendwann aus dem Haus gehen und irgendwann später würden sie pensioniert | |
werden oder in Rente gehen. Und ab dann würden sie ihren Bäumen beim | |
Wachsen zusehen. | |
Rammsee, das war ein realer Ort, aber auch eine Lebensform. Und ich frage | |
mich, was das Wort „es“ in der Wendung „es geschafft haben“ genau | |
bedeutete. Der Lebensentwurf beinhaltete, für sich und seine Familie einen | |
sicheren, bequemen und vorzeigbaren Ort geschaffen zu haben. Und er hieß | |
zugleich, zum gehobenen Mittelstand zu gehören und damit zum Wunschtraum | |
der alten Bundesrepublik. Die ganze Gesellschaft wurde so umgebaut, dass | |
solche Vororte möglich wurden. Die Innenstädte wurden zu Büro- und | |
Einkaufszentren. Stadtautobahnen wurden geplant. Das Ehegattensplitting | |
unterstützte das Kleinfamiliäre. Verbunden war das alles mit einem großen | |
Identitätszwang. | |
Als Nächstes führt mein erster Schulweg linksherum, vom Barstenkamp in den | |
Rammsmoor. Ab jetzt bin ich nicht mehr oft allein gegangen, vielleicht | |
haben sich sogar kleine Grüppchen gebildet, aufgeregte Grundschüler, die | |
sich geschubst und gestritten haben und darüber diskutiert (daran erinnere | |
ich mich genau), welches Elternhaus mehr Toiletten hatte. | |
Weiter geht’s an Einfamilienhäusern vorbei, an Garagenauffahrten, Hecken, | |
ich registriere die erwartbar hohe SUV-Dichte. Damals habe ich mit beinahe | |
jedem Haus etwas verbunden. Da war ich zum Kindergeburtstag eingeladen, da | |
musste man vor dem Hund aufpassen, da wehte immer die Deutschlandflagge, da | |
wohnte mein Zahnarzt (mit Schießstand im Keller). Immer noch sehe ich | |
keinen Menschen. | |
Plötzlich drängt sich die Gegenwart ins Bild. Neben einem der Häuser steht | |
ein großes gelbes Plastikzebra im Garten, daneben hängt eine Holzschaukel | |
im Baum, und an einer Seilwinde – ich kann mir nicht recht einen Reim | |
darauf machen – hängt ein riesiger knallroter Hüpfball. Das Arrangement | |
sieht nicht nach stehen gebliebenem Damals aus, sondern nach dem leicht | |
chaotischen, durchaus sympathischen Alltag einer modernen Kleinfamilie mit | |
untereinander sorgfältig ausgehandelten Plänen zum Rasenmähen und gut | |
organisierten Fahrgemeinschaften zum Klavierunterricht oder zu den | |
Tennisstunden. | |
Ich sehe mich um. Ein paar Häuser weiter wird neu gebaut, auf der | |
gegenüberliegenden Straßenseite steht ein rot geklinkertes Haus zum | |
Verkauf. Es bewegt sich also doch etwas in diesem Vorort! | |
## Die äußere und die innere Bedrohung | |
Gleich kommt mir der Horrorfilm „Halloween“ aus den Siebzigern in den Sinn. | |
Mir hat immer die Interpretation eingeleuchtet, dass der Horror in ihm aus | |
dem Vorort selbst kommt – der Uniformität der Einfamilienhäuser, der endlos | |
gedehnten Zeit am Wochenende. Die deutschen Vorortbewohner dagegen haben | |
sich immer vor Bedrohungen von außen gegruselt, „Aktenzeichen XY“ mit | |
Eduard Zimmermann sahen alle. Dabei war ihre Lebensform doch vor allem von | |
innen bedroht. Die Ehen mussten halten. Die Hypothekenzinsen durften nicht | |
steigen. Der Mann durfte seine Arbeit nicht verlieren. | |
In den USA wurde das Vorortleben sowieso viel gründlicher ausgeleuchtet, in | |
literarischen Klassikern wie „Zeiten des Aufruhrs“ von Richard Yates, den | |
Rabbit-Büchern von John Updike, der Frank-Bascombe-Reihe von Richard Ford | |
oder auch in Fernsehserien wie „Desperate Housewives“. Eine große | |
Ambivalenz von Selbstverwirklichung und Fluchtgedanken findet sich in | |
diesen Werken ausgebreitet. Die meisten deutschen Gegenwartsromane spielen | |
dagegen entweder auf dem Dorf oder in der Großstadt. | |
Jetzt geht es noch einmal linksherum in die von mir so genannte | |
Krampfaderstraße, die in Wirklichkeit Rammseer Weg heißt. Es ist eine alte | |
Dorfstraße, die eng und leicht geschlängelt (wie eine Krampfader eben) | |
einen Hügel hinunterführt. Hier standen früher tatsächlich alte Häuser; | |
manche von ihnen wurden längst abgerissen, um modernen Bungalows Platz zu | |
machen. Neben dem schmalen Fußgängerdurchgang, der zur Schule führt, | |
scheint es aber zu meiner Freude immer noch die Hippie-WG in dem | |
Villa-Kunterbunt-artig verwitterten alten zweistöckigen Haus zu geben. | |
Als Jugendlicher hat sie mich sehr beschäftigt. Es war das einzige Mal, | |
dass ich ernsthaft Fantasien entwickelt habe, später doch in dem Vorort zu | |
leben. Wein trinkend auf der Terrasse, Musik hörend, die aus dem Wohnzimmer | |
herüberweht, so habe ich mir das vorstellen können. Innerhalb das Vororts | |
ist die WG damals natürlich etwas Fremdes gewesen; inzwischen haben sich | |
aber zumindest einige Gärten ihrer gepflegten Verwilderung angenähert. | |
Etwas Boheme gehört inzwischen halt zum Lebensstil auch der Mittelklasse. | |
Dann bin ich da, ich stehe vor meiner Grundschule. | |
## Die Überraschung an der Schule | |
Ein Plakat „Refugees welcome!“ prangt am Eingang. An den Außenwänden sind | |
Leitsprüche montiert. Sie besagen: „Wir ermutigen einander“ und „Wir | |
stärken eigenverantwortliches Lernen und Handeln“. Freundliche Jungs- und | |
Mädchen-Figuren sind auf die Klotüren gemalt. | |
Ich bin überrascht, fast erschüttert. Das alles wäre früher nicht möglich | |
gewesen! So modern die Schule war, Sechziger-Jahre-Flachbau, | |
Lehrschwimmbecken, Mengenlehre, im Prinzip war sie eine etwas groß geratene | |
Dorfschule. Wir in der A hatten vier Jahre lang immer nur dieselbe eine | |
Lehrerin, Frau E. Einmal hat der Direktor mir eine Ohrfeige gegeben, und es | |
war nicht selbstverständlich, dass mein Vater ihn dann sogar verklagt hat. | |
Inzwischen hat sich Schleswig-Holstein aber offensichtlich zumindest von | |
Dunkelschwarz ins Schwarzgrüne aufgehellt. | |
Am Schluss dieses Nachmittags gehe ich noch zweimal um die Ecke, über die | |
Landstraße und quer durch einen Wald auf einen kleinen Hügel zu einer Bank. | |
Auf ihr habe ich als Jugendlicher oft gesessen und mich von hier | |
weggeträumt. Die Bundesstraße war von dort oben zu sehen gewesen, die Autos | |
waren in die weite Welt hinausgefahren – dorthin, wo „etwas los ist“ | |
(wieder so eine Formel), wo „das Leben spielt“. Auch das gehörte zum | |
Aufwachsen in dem Vorort. | |
Die Aussicht auf die Bundesstraße ist jetzt zugewachsen – so zugewachsen | |
wie der Blick zurück in die Vergangenheit. Doch in der Ferne kann ich die | |
Autos immerhin rauschen hören. | |
Jemand kommt vorbei. Eine ältere Dame mit Hund. Wir kennen uns nicht und | |
grüßen uns freundlich. Und ich denke daran, dass ich als Mensch ohne | |
Migrationshintergrund ja nicht so oft in diesem forschenden Sinn gefragt | |
werde, wo ich herkomme. Das, was ich an diesem Tag gesehen habe, wäre | |
jedenfalls eine Version dessen, was ich darauf antworten kann. | |
Dann stehe ich auf und gehe zum Bus und fahre wieder weg. | |
18 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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