| # taz.de -- Kurzroman über Blut und Fruchtfliegen: So wild und so verwegen | |
| > Kemperer ist über seinem Rotwein eingeschlafen, als es an der Tür läutet. | |
| > Der Gerichtsvollzieher – auf seinem Grundstück. Das kann er nicht | |
| > zulassen. | |
| Bild: Über seinem Rotwein eingeschlafen … | |
| Blücher bellt. | |
| Er bellt schon eine ganze Weile, als der Mann im tiefen Sessel endlich | |
| erwacht, blinzelnd im fahlen Licht des Morgens. Seine Lesebrille neben dem | |
| vollen Aschenbecher. Um den Kirchturm der geleerten Weinflasche zirkeln | |
| Fruchtfliegen. Wie ein Schwarm beschwipster Schwalben fliegen sie gezuckte | |
| Muster. Ihr Leben, denkt er, wird nur so lange währen, wie noch ein wenig | |
| Wein ist in der Flasche. Sinnlos. Die Zeitung von gestern ist ihm im Schlaf | |
| von den Knien auf dem Teppich gerutscht, ein Spagat aus Papier. Der | |
| Fernseher läuft noch, lautlos. Nordseewellen wühlen gegen die Stützpfeiler | |
| einer Bohrinsel, am unteren Bildrand sind die aktuellen Werte deutscher | |
| Unternehmen auf ihrer ewigen Wanderung in die Zukunft zu sehen. Oben ist | |
| die Uhrzeit eingeblendet. So früh? Der Mann tastet nach der Fernbedienung, | |
| kann sie nicht finden, gibt auf. Draußen im Zwinger spielt der Hund jetzt | |
| völlig verrückt. Ächzend erhebt sich der Mann, die Hüfte, und lauscht. | |
| Blücher knurrt wie ein hochtouriger Einzylinder mit defektem Auspuff, | |
| schubweise, und sein Luftholen ist ein heiseres Röcheln. Das ist nicht gut. | |
| Solche Geräusche macht Blücher nur, wenn er sein Revier verteidigt. | |
| Jemand ist auf dem Grundstück. Sie sind auf dem Grundstück. | |
| Auf seinem Grundstück. | |
| Es läutet. Ein hohes Ding, ganz kurz, ein tiefes Dong, fast ein Gong. | |
| Lauschend steht er im Wohnzimmer, mit hängenden Schultern und hängenden | |
| Armen, ein Mann von siebzig Jahren, dem man seine siebzig Jahre nicht | |
| ansieht, der sie aber spürt. Ding, dong. Ding? Dong! | |
| „Herr Doktor Kemperer? Machen Sie keine Sachen, machen Sie bitte auf!“ | |
| Er kennt diese Stimme. Weiß, wer das ist. War schon einmal hier, der | |
| Gerichtsvollzieher. Netter Kerl eigentlich, macht auch nur seine Arbeit. | |
| Jetzt strafft sich sein Körper, und Hartmut Kemperer sagt zu seiner | |
| deckenhohen Bücherwand, ganz ruhig und leise: „Ich komme schon. Ich komme. | |
| Ich bin bereit.“ | |
| Er lässt den Blick schweifen und geht zur Stereoanlage, bückt sich, öffnet | |
| die Abdeckung des Plattenspielers und hebt mit dem Zeigefinger den Tonarm | |
| an, ganz zart, als säße da ein Vogel auf seinem Finger. Kemperer freut | |
| sich, dass seine Hände nicht zittern, und lässt die Nadel auf das Vinyl | |
| sinken. Ein kurzes Knistern, dann füllt Alfred Brendel am Flügel den Raum. | |
| Es stellt sich eine zögernde und stockende Figur in h-Moll vor, dann | |
| erklingt der warme Bariton von Dietrich Fischer-Dieskau. Im Vorbeigehen | |
| greift Kemperer durch den Schwarm nach der Flasche und ist schon im Flur, | |
| an dessen Wand seit Monaten schon die Sandsäcke gestapelt sind. Dort tastet | |
| er auf dem Kleiderschrank nach seiner österreichischen Freundin. | |
| In die tiefsten Felsengründe lockte mich ein Irrlicht hin. | |
| Die Stimme aus dem Wohnzimmer verdrängt alle anderen Laute, selbst das | |
| Toben von Blücher draußen. Kemperer zieht sich den Bademantel über und | |
| späht durch den Türspion. Zwei Typen, aha. Da ist der fette | |
| Gerichtsvollzieher, die Hände in die Hüften gestemmt, das Klemmbrett unter | |
| die Achsel geklemmt. Daneben ein junger Mann. Blaue Latzhose, | |
| Bürstenhaarschnitt, Umhängetasche. Vermutlich der Schlosser. Kemperer | |
| lächelt. | |
| Wie ich einen Ausgang finde, liegt nicht schwer mir in dem Sinn. | |
| Ding, dong. | |
| Liegt nicht schwer mir in dem Sinn. | |
| „Einen Moment!“, ruft Kemperer. Er schiebt die beiden stählernen Türriegel | |
| zur Seite, löst das Kettenschloss und öffnet die Tür: „Guten Morgen, die | |
| Herren!“ | |
| Der Schlosser tritt mit einem entschuldigenden Lächeln einen Schritt | |
| zurück. Sichtlich erleichtert, dass seine Dienste nicht mehr gebraucht | |
| werden. Und irritiert über diese Erscheinung, ein alter Mann im weißen | |
| Morgenmantel, in einer Hand eine leere Rotweinflasche, die andere Hand | |
| ungelenk auf dem Rücken. | |
| Bin gewohnt das Irregehen, 's führt ja jeder Weg zum Ziel. | |
| Der Gerichtsvollzieher war gerade dabei, sich am Zipfel seines Hemdes die | |
| Brillengläser zu trocknen. Er scheint überrascht, dass Kemperer die Tür | |
| geöffnet hat. In der Vergangenheit hat er ganz andere Erfahrungen gemacht. | |
| „Guten Morgen, Herr Doktor Kemperer. Sie wissen, warum wir hier sind?“ | |
| „Ich nehme an, es geht um meine Grundschuld?“, sagt Kemperer und blickt | |
| über die beiden Männer hinweg. Der Rottweiler in seinem Zwinger hat sich | |
| mit dem Erscheinen seines Herrchens beruhigt. Die Pforte zur Straße ist | |
| offen, also aufgebrochen. Das war der Schlosser. Ein leichter Nieselregen | |
| geht nieder auf Rasen und Fichten und die Koniferen, die das Grundstück zur | |
| Straße hin begrenzen. | |
| Uns’re Freuden, uns’re Wehen, alles eines Irrlichts Spiel. | |
| „Richtig. Ihre Grundschuld. Das hatten wir ja schon“, sagt der | |
| Gerichtsvollzieher, die Brille wieder im Gesicht: „Heute bin ich hier, weil | |
| mich das Landratsamt gemäß Paragraf 802 ermächtigt hat … was ist das?“ | |
| „Schubert“, sagt Kemperer und deutet mit dem Lauf seiner Pistole über die | |
| Schulter ins Wohnzimmer: „Ist die Musik zu laut? Gibt’s Beschwerden?“ | |
| Der Beamte erbleicht: „Das ist eine Waffe. Ist das eine richtige Waffe? | |
| Richten Sie eine Waffe auf mich?“ | |
| Alles eines Irrlicht’s Spiel. | |
| Kemperer blickt an sich herab und nickt, als wäre ihm die Pistole in seiner | |
| Hand jetzt erst aufgefallen: „Oh, das ist meine österreichische Freundin. | |
| Eine Glock, Modell 41. Klassische Fangschusswaffe. Und ja, die richte ich | |
| jetzt auf Sie.“ | |
| Durch des Bergstroms trock’ne Rinnen wind' ich ruhig mich hinab. | |
| Der Schlosser, das entschuldigende Lächeln nur ein wenig verrutscht, weicht | |
| ein paar Meter zurück, dreht sich um und rennt. Der Gerichtsvollzieher | |
| schluckt, Kemperer kann seinen Adamsapfel hüpfen sehen. | |
| „Sie machen einen fürchterlichen Fehler, Kemperer“, stößt er hervor. „… | |
| glauben doch nicht, dass ich alleine gekommen bin!“ | |
| Jeder Strom wird’s Meer gewinnen, jedes Leiden auch sein Grab. | |
| „Schauen Sie hier“, erklärt Kemperer und senkt die Waffe. „Es ist ganz | |
| einfach. Wenn ich den Schlittenfang nach unten drücke, so? Dann klickt es, | |
| und dann ist diese Pistole sozusagen schussbereit …“ | |
| Kemperer schaut auf, da ist der Gerichtsvollzieher schon durch das | |
| Gartentor verschwunden. Auf dem Rasen neben den Gehwegplatten liegt noch | |
| das Klemmbrett. Kemperer schleudert die Flasche in einer weiten Bewegung | |
| über die Hecke hinüber zu Hammerschmidt, dem Arschloch. Kein Splittern, | |
| schade. Er lässt die Pistole in die Manteltasche gleiten und geht am | |
| Gartenteich vorbei. Hinüber zum Zwinger, wo ihn der hechelnde Blücher | |
| erwartet. | |
| „Dann wollen wir mal, mein Großer“, sagt er und öffnet das Gatter. | |
| Jeder Strom wird’s Meer gewinnen, jedes Leiden auch sein Grab. | |
| Der Rottweiler zwängt sich sofort an Kemperer vorbei. Kemperer versucht | |
| noch, ihn am Halsband zu packen, aber da ist Blücher schon mit gesträubtem | |
| Rückenfell vorbei, auf das Gartentor zu. Und da steht plötzlich dieser | |
| Polizist, ohne Mütze, die gezückte Pistole vorschriftsmäßig mit zwei Händen | |
| auf den Boden gerichtet. | |
| Nun merk’ ich erst, wie müd’ ich bin, da ich zur Ruh’ mich lege. | |
| Der Polizist versucht noch, sich einen Überblick zu verschaffen. Der Garten | |
| mit dem Carport und der Teich, daneben die Fahnenstange, ein nackter Stift | |
| aus Aluminium. Musik aus dem Haus, ein verwirrter alter Mann, barfuß im | |
| Bademantel, vor dem geöffneten Zwinger. Ein Rottweiler im vollen Lauf, dem | |
| die Speichelschlaufen um die Lefzen fliegen. | |
| Das Wandern hielt mich munter hin, auf unwirtbarem Wege. | |
| Der Schuss ist eher ein Verpuffen als ein Peitschen. Blücher knickt über | |
| die Vorderläufe weg. Kugelt und überschlägt sich. Bleibt zu Füßen des | |
| Polizisten liegen, der aufschaut und Luft holt, um etwas zu brüllen. Da hat | |
| Kemperer schon seine österreichische Freundin aus der Tasche gezogen und | |
| abgedrückt. Die Waffe ist so leicht, dass der erste Schuss daneben geht. | |
| Ein paar Zweige und Holzsplitter rieseln aus der Fichte. | |
| Die Füße frugen nicht nach Rast, es war zu kalt zum Stehen. | |
| Der zweite Schuss trifft den überraschten Polizisten in den Bauch. Er atmet | |
| pfeifend aus und sagt etwas, das sich wie „Umpf“ anhört. Seine Pistole | |
| landet klappernd auf dem Gehweg, er taumelt drei Schritte zur Seite und | |
| hält sich den Magen, blickt auf und wird von der dritten Kugel in die | |
| Schulter getroffen. Sie schubst ihn beinahe behutsam in den Teich, | |
| Oberkörper unter Wasser. Kurz steigen Blasen auf, er rudert mit den Armen. | |
| Im Vorbeigehen feuert Kemperer dem armen Kerl noch drei Kugeln zwischen die | |
| Schulterblätter. Da! Bitte! Schön! | |
| Der Rücken fühlte keine Last, der Sturm half fort mich wehen. | |
| Schon ist er beim Carport, wo sein roter Chrysler Le Baron seit Monaten | |
| schon Winterschlaf hält, weil er keine Zulassung mehr bekommen hat. Er | |
| greift sich den gelben Benzinkanister und wendet sich zum Gartentor. Die | |
| leichte Glock in der rechten Hand und den schweren Kanister in der Linken | |
| schreitet Kemperer jetzt weit aus, alle Sinne geschärft. Die Sohlen seiner | |
| Pantoffeln nässen durch, er bekommt langsam kalte Füße, buchstäblich, nicht | |
| sprichwörtlich, oh nein. Die Straße ist menschenleer, wie immer, drüben | |
| parkt der große Volvo von Hammerschmidt, bedeckt von Herbstlaub. Wann ist | |
| das eigentlich passiert, dass die Autos alle so riesig wurden? Kein Laut | |
| aus den Villen ringsum. Auf dem Gehweg stehen die leeren Mülltonnen | |
| beieinander, als hätten sie etwas zu besprechen. Vermutlich tuscheln sie | |
| über den Streifenwagen, der mit laufendem Motor im Parkverbot steht. Die | |
| Lichtorgel auf dem Dach zerschlitzt den Morgen, lautlos und blau. Der Bulle | |
| hängt bei geöffneter Tür auf der Fahrerseite, halb auf dem Sitz, die Beine | |
| auf dem Boden, der Oberkörper im Wagen. | |
| In eines Köhlers engem Haus, hab‘ Obdach ich gefunden. | |
| Kemperer nähert sich zügig, hört das Knarzen des Funkgeräts, das gepresste | |
| Flüstern des Polizisten. Was macht er da? Was denkt der sich? Aus den | |
| Augenwinkeln sieht Kemperer einen himmelblauen Fleck und hält inne. Da | |
| steht die alte Frau Ringelstein, wie immer im seidenen Nachthemd, wirr das | |
| graue Haar, der Mund ohne Gebiss. Steht auf dem feuchten Rasen zwischen den | |
| Gartenzwergen hinter ihrem Jägerzaun und schaut verwirrt zu ihm hinüber, | |
| eine ihrer schlanken Zigaretten im Mundwinkel. Kemperer winkt und legt den | |
| Finger auf die Lippen. Frau Ringelstein winkt erleichtert zurück und legt | |
| ebenfalls ihren Finger auf die Lippen. Kemperer erreicht den Wagen und | |
| schaut in den Himmel, wo unter den trockenen Schlägen seiner Schüsse die | |
| Tauben aufflattern und schimpfend im Grau verschwinden, wie Fruchtfliegen. | |
| Doch meine Glieder ruh'n nicht aus, so brennen ihre Wunden. | |
| Kemperer steht, schwer atmend, und lauscht. Noch immer ist da nur das zarte | |
| Nieseln, ein feines Rauschen über der morgendlichen Welt, und sein eigener | |
| Herzschlag, hämmernd jetzt. Der Körper vor ihm, im Auto, hingelagert über | |
| beide Sitze, verrenkt und leblos. Aus den Sitzen quillt Polsterfüllung, das | |
| Armaturenbrett ist zersplittert. Kemperer schaut an sich herunter, die | |
| Blutspritzer auf seinem Bademantel, die dummen Pantoffeln, ein leichter | |
| Pulverrauch um seine Knöchel. | |
| So brennen ihre Wunden. | |
| Er stellt den Benzinkanister ab, schiebt die Glock wieder in die | |
| Manteltasche und blickt zur alten Frau Ringelstein hinüber, die sich nicht | |
| gerührt hat. Ihre Augen glänzen, endlich passiert mal was. | |
| „Also, Herr Doktor Kemperer!“, sagt sie zwischen zwei Zügen und mit | |
| Anerkennung in ihrer Stimme. „So kenne ich Sie ja gar nicht!“ | |
| „Ich mich auch nicht, Frau Ringelstein. Ich mich auch nicht.“ | |
| „Aber was machen wir denn jetzt?“, fragt sie und kratzt sich an der Stirn, | |
| die Zigarette noch zwischen den Fingern. | |
| „Wir machen das jetzt weg?“, schlägt Kemperer vor und schraubt den | |
| Benzinkanister auf. Er beugt sich halb in den Wagen und lässt es | |
| hineingluckern. Über die Polster, den Körper dort, das Lenkrad, die | |
| Armaturen. | |
| Auch du, mein Herz, in Kampf und Sturm, so wild und so verwegen. | |
| „Haben Sie mal Feuer?“ | |
| „Aber gewiss“, sagt Frau Ringelstein und reicht Kemperer ein flaches | |
| Feuerzeug über den Jägerzaun: „So kenne ich Sie ja gar nicht“, wiederholt | |
| sie und sieht dabei plötzlich wieder ganz jung aus, als wäre sie 19 und | |
| kokett statt 91 und dement. | |
| „Ich auch nicht, Frau Ringelstein“, sagt Kemperer. „Ich mache das jetzt | |
| weg.“ | |
| Ein Funken genügt. Mit einem zornigen Auffauchen geht der Wagen in Flammen | |
| auf. Von dem Anhauch der Hitze überrascht, prallt Kemperer ein paar | |
| Schritte zurück. Er ballt die Fäuste im Triumph und genießt die Wärme auf | |
| seinem Gesicht. | |
| „Ja, was ist denn hier los? Polizei!“ | |
| Hammerschmidt, das Arschloch. Endlich wach geworden. Steht auf dem Balkon | |
| und droht mit der Faust. Wundern wird der sich. Wundern. | |
| „Die ist schon da, Herr Hammerstein!“, ruft Kemperer und reicht Frau | |
| Ringelstein ihr Feuerzeug: „Verbindlichsten Dank. Und jetzt gehen Sie | |
| besser wieder ins Haus, nicht wahr? Wird gleich sehr voll hier und | |
| womöglich auch gefährlich.“ | |
| Ihre Wangen glühen. Sie schnippt die Zigarette von sich und lächelt selig: | |
| „Habe ich Ihnen schon erzählt, wie ich Fischer-Dieskau seinerzeit in | |
| Salzburg … oder war es Baden-Baden?“ | |
| So wild und so verwegen | |
| Kemperer lässt sie stehen und geht ruhig auf sein Grundstück zurück. | |
| Hammerschmidt brüllt irgendwas, und Frau Ringelstein ruft: „Es duftet, es | |
| duftet! Grillen wir heute, Herr Doktor? So kenne ich Sie ja gar nicht!“ | |
| „Ich auch nicht!“, ruft Kemperer, ohne sich umzudrehen. | |
| Neben Blücher geht er in die Hocke und streicht ihm über den Schädel. An | |
| seinen Fingern klebt Blut. Die Zunge des Hundes hängt ein wenig heraus, ein | |
| rosafarbener Zipfel zwischen den Reißzähnen. Das hätten sie nicht tun | |
| sollen. | |
| Fühlst in der Still’ erst deinen Wurm, mit heißem Stich sich regen. | |
| Kemperer erhebt sich mit knackenden Gelenken, geht in den Carport und | |
| öffnet den Kofferraum des Chrysler. Er holt das Tuch heraus, weiß und | |
| schwarz und rot. Für eine Weile betrachtet er die Farben, betastet den | |
| Stoff. Mit wenigen Griffen hakt er das Tuch ins Seil und zieht es unter | |
| kläglichem Gequietsche der Gewinde die Fahnenstange hinauf. Mit | |
| zusammengekniffenen Augen blickt er hinauf und ist enttäuscht. Weil kein | |
| Wind geht, hängt sie nun dort oben schlaff herunter. Über dem Reichstag, | |
| denkt er, in diesem flatternden Geviert, da haben sie Gebläse. Damit die | |
| Fahnen immer stramm im Wind stehen. Und im Kreml auch. So gehört sich das. | |
| Knattern muss es. | |
| Mit heißem Stich sich regen. | |
| Als hinter ihm die Haustür mit einem satten KLACK ins Schloss fällt, ahnt | |
| er erstmals, dass er diese Tür wohl nie wieder öffnen wird. Vor die | |
| glühende Sonne seiner Erregung schiebt sich kurz die Wolke der Müdigkeit. | |
| Seine Herz, es rattert. Doktor Kemperer atmet und wartet und stellt ihn | |
| sich vor, den alten Muskel in seinem dunklen Käfig, lässt die Zügel seiner | |
| Gedanken nur ein wenig schleifen … und sieht sich sofort auf einem gemähten | |
| Feld stehen im Herbst. Mit Melanie, seiner Tochter, da war sie gerade mal | |
| sechs Jahre alt war. Und der Drachen über ihren Köpfen wusste nicht, wohin | |
| mit der Freude über seine Freiheit. Ein gelbes Trapez unter der den | |
| eilenden Wolken. Und die eigentümlich lebendige Ekstase dieser flüchtigen | |
| Konstruktion aus synthetischem Stoff und Plastikstangen durchzitterte den | |
| Nylonfaden, an dem sie hing. Melanie plötzlich in Tränen, der Drachen | |
| könnte davonfliegen. Er ist schon so weit, weit weg! | |
| Kemperer holte ihn wieder ein, mit leisem Bedauern und ruhig kurbelnden | |
| Bewegungen. Je näher er kam, desto schwächer wurde das Schluchzen seiner | |
| Tochter. Zuletzt konnte er das Konstrukt einfach aus der Luft greifen, so | |
| stramm ging der Wind damals, und Melanie reichen wie etwas, das er einfach | |
| so aus dem Himmel gepflückt hatte. Sie lächelte zu ihm herauf. Und er | |
| lächelte zu ihr herab, wie er auch jetzt lächelt, denn sein Herz hat sich | |
| beruhigt. | |
| So sinnt Kemperer versunken, bis sich im Wohnzimmer die Nadel mit einem | |
| feinen Schnalzen von der Platte hebt. Da gibt er sich einen Ruck. Weiter | |
| geht’s. Im Wohnzimmer seine Lesebrille, der volle Aschenbecher, der stumme | |
| Fernseher. Die Flasche ist weg. Aber die Fruchtfliegen sind noch da. | |
| 1 Sep 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Arno Frank | |
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