Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Prozess nach Säureattacke: „Er soll nicht weiterleben wie bisher…
> Vanessa Münstermann will von dem Mann, der sie mit Säure verätzte,
> 250.000 Euro Schmerzensgeld. Die Richterin hält das wohl für angemessen.
Bild: Fordert selbstbewusst ihr Recht ein: Säureopfer Vanessa Münstermann
HANNOVER taz | Sie will den Mann, der ihr Säure ins Gesicht gekippt hat,
auf keinen Fall treffen. Vanessa Münstermann steht deshalb schon über eine
Stunde vor Prozessbeginn vor dem Eingang des Landgerichts in Hannover. Sie
wird ihren Anwalt nicht in den Saal begleiten – aber sprechen möchte sie.
Münstermann ist hier, um Schmerzensgeld einzuklagen. 250.000 Euro. „Er kann
mir eine finanzielle Unabhängigkeit geben“, sagt die 29-Jährige. „Und er
soll nicht nach zehn Jahren rauskommen und weiterleben wie bisher. Das soll
auch finanzielle Konsequenzen haben.“
Münstermanns linke Gesichtshälfte ist von Säure zerfressen. Die Narben
ziehen sich bis zum Dekolletee, von ihrem Ohr ist fast nichts mehr übrig
und ihr Auge musste entfernt werden. Sie trägt ein Glasauge. Statt einer
farbigen Pupille glänzt dort eine Scheibe aus Silber. Es lenkt die Blicke
ihrer Gegenüber bewusst in ihr Gesicht. Vanessa Münstermann will sich nicht
verstecken. „Ich will damit provozieren“, sagt sie.
Die 29-Jährige zeigt mit jedem ihrer öffentlichen Auftritte, dass der
Täter, ihr gewalttätiger Ex-Freund, sie nicht gebrochen hat. Auf ihren Hals
hat sie sich die chemische Formel für Schwefelsäure tätowieren lassen. Noch
so ein Symbol. Sie bestimmt darüber, wie ihr Körper aussieht.
Die Tat geschah, kurz nachdem sie mit Daniel F. Schluss gemacht hatte. Er
attackierte sie am 15. Februar 2016 auf der Straße. Das Landgericht
Hannover verurteilte F. wegen absichtlicher, schwerer Körperverletzung zu
zwölf Jahren Haft.
„Ich empfinde nichts für ihn“, sagt Münstermann vor dem Landgericht. Nur
die Angst werde immer größer. Was passiert, wenn er entlassen wird? „Er
hasst mich zutiefst, das weiß ich“, sagt Münstermann, die von F. viele
Briefe aus dem Gefängnis bekam. „Die Angst ist so groß, weil er weiß, dass
ich jetzt etwas besitze, das das Wichtigste in meinem Leben ist. Meine
Tochter.“
Drei Monate ist das Mädchen alt. Münstermann hat sich nach der Attacke
verliebt, eine eigene Wohnung gefunden und eine Familie gegründet. „Ich
freue mich richtig auf die Zukunft“, sagt sie. „Der Lebensmut ist enorm.“
Von dem Schmerzensgeld möchte sie ihre Tochter finanziell absichern.
Momentan lebe sie von rund 1.000 Euro Rente. In ihrem früheren Beruf als
Kosmetikerin wird sie wohl nicht mehr arbeiten können. „Mir fehlt diese
3-D-Sicht“, sagt sie. Wimpern färben, Augenbrauen zupfen – wer würde sie
schon an die Augen von Kunden lassen?
Die Eltern des Täters haben ihr ein Schmerzensgeld von bis zu 100.000 Euro
angeboten. Schon vor dem Strafprozess hatten sie ihr 50.000 Euro gezahlt.
Das neue Angebot bestätigt auch der Rechtsanwalt von F. Doch Münstermann
schlug es aus, da das Geld an eine Bedingung gekoppelt war: Sie sollte
schweigen. Nicht mehr öffentlich über den Täter sprechen, den sie in
Interviews bei seinem Vornamen nennt.
## Kein Schulabschluss, keine Berufsausbildung
„Ich glaube, ich würde daran kaputt gehen, schweigen zu müssen“, sagt
Münstermann, die im vergangenen Jahr [1][den Verein „Ausgezeichnet“]
gegründet hat, um damit anderen Opfern von Säureanschlägen und
Verbrennungen zu helfen. Die Hannoveranerin nutzt ihre eigene Geschichte,
um anderen Mut zu machen.
Es ist halb elf. Münstermann verabschiedet sich. „Ich möchte ihm auf keinen
Fall begegnen“, sagt sie. Im Gerichtssaal aber sitzt nur der Rechtsanwalt
von F. Er zweifelt die psychischen Folgen der Tat für Vanessa Münstermann
an. Sicher sei die Tat sehr gravierend gewesen. „Inwieweit das belastend
ist, darüber habe ich keine psychologischen Gutachten“, sagt Anwalt Max
Marc Malpricht. 250.000 Euro hält er für zu viel.
## Von den Eltern enterbt
„Mein Mandant hat das Geld nicht“, sagt Malpricht. F. habe keinen
Schulabschluss oder eine Berufsausbildung. Auch in der Haft gehe er keiner
Beschäftigung nach. Seine Eltern hätten die monatlichen Zahlungen an ihn
eingestellt, hätten ihn enterbt und wollten ihm auch den Pflichtteil des
Erbes entziehen lassen. Das ist nach Haftstrafen von mindestens einem Jahr
rechtlich möglich. Zusätzlich könne auch der Staat von F. noch 176.000 Euro
für die Behandlungskosten von Münstermann einfordern. „Ich weiß nicht, wie
er das jemals bezahlen soll“, sagt der Anwalt.
Richterin Stefanie Piellusch machte hingegen deutlich, dass sie
Münstermanns Forderung für angemessen hält. Die Tat habe „auf die
Entstellung des Gesichts“ abgezielt. Zwar sei der Betrag für deutsche
Verhältnisse sehr hoch, es sei aber auch eine extreme Tat, die gut
vorbereitet gewesen sei. „Die Klägerin hat großes Glück gehabt, dass sie
die Säure nicht geschluckt hat“, sagt die Richterin. Sonst hätte sie
sterben können.
## Mit dem Geld ist nicht zu rechnen
Das Urteil wird Piellusch erst am 2. Oktober sprechen. Ob Münstermann
jemals etwas von dem Geld bekommt, ist unklar. Derzeit scheint F. kein
Vermögen zu besitzen. Rechtlich hätte Münstermann als Gläubigerin die
Möglichkeit, über 30 Jahre das Geld von Gerichtsvollziehern eintreiben zu
lassen.
Anwalt Malpricht geht nicht davon aus, dass die Eltern des Täters ohne die
geforderte Vereinbarung noch etwas dazugeben werden. „Sie haben ein
Interesse daran, dass die Tat in Vergessenheit gerät“, sagt er. „Damit die
Eltern ein bisschen Ruhe bekommen.“ So könnte die 29-Jährige am Ende zwar
mit einem Urteil, aber ohne Schmerzensgeld dastehen.
Münstermann ist das bewusst: „Ich rechne vielleicht gar nicht mit dem
ganzen Geld“, sagt sie. „Dann reicht es vielleicht für den Führerschein d…
Kleinen oder das Jugendzimmer.“
17 Aug 2018
## LINKS
[1] https://www.ausgezeichnet-ev.de/
## AUTOREN
Andrea Maestro
## TAGS
Säureanschlag
Schmerzensgeld
Prozess
Hannover
Gewalt gegen Frauen
Gewalt gegen Frauen
Kolumbien
Säureanschlag
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Freiheit nach dem Anschlag: „Viele Opfer mögen mich nicht“
Vanessa Münstermann war Ziel eines Säureanschlags ihres Ex-Freundes. In der
taz spricht sie darüber, wie das ihr Leben verändert hat.
Gewalt gegen Frauen: Verätzt, weil sie sich trennen wollte
Mit Salzsäureattacken kann man Menschen entstellen. Die Opfer solcher
Anschläge sind meist Frauen, Täter sind Partner und Expartner.
Säureattentate in Kolumbien: Gezeichnet fürs Leben
Säureattentate sind in Kolumbien ein verdrängtes Phänomen. Eine
Selbsthilfeorganisation in Bogotá kämpft gegen diese Ignoranz.
Bildband über Gewalt gegen Frauen: Der Alltag nach dem Attentat
Die Fotografin Ann-Christine Woehrl dokumentiert das Schicksal von Frauen,
die einen Säure- und Brandanschlag überlebten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.